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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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noch ein paar Minuten Luft.
    Weder Poul noch Andreas sprachen auf dem Fußweg vom Bahnhof zum Haus. Der Schnee fiel langsam, rieselte in schaukelnden Bewegungen zur Erde, blieb jedoch nicht lange liegen.
    Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren beleuchtet, Menschen begegneten sie dagegen kaum. In ganz Göteborg, der Stadt, die in Andreas immer einen solchen Widerwillen geweckt hatte, herrschte Stille. Er hatte sich hier niemals wohl gefühlt, nicht einmal, wenn er hingefahren war, um sich mit seinem Vater zu treffen. Jetzt wussten weder er noch Poul, was sie erwartete.
    Und in ihren Köpfen pochten die Fragen.
    Lebt Vater noch? Sind wir rechtzeitig gekommen? Besteht noch Hoffnung, dass er sich wieder erholt?
    Es schneite weiter auf sie herab. Schnee legte sich auf die Hutkrempe und ließ sie rasch nass und schwer werden, ihre Schuhe marschierten beharrlich durch Wasserpfützen und Matsch. Vor sich sahen sie das Haus. Rauch stieg wie eine schmutzig graue Säule vom Dach nach oben, und es war entsetzlich still.
    Die ganze Familie stand in einem Kreis ums Bett versammelt, in dem Sören Bjerre auf dem Rücken lag und mit tiefen und leicht röchelnden Atemzügen schlief, so als hätte sich genau am Ansatz der Luftröhre etwas Schleim gesammelt. Seine Haare lagen in einem seltsamen Seitenscheitel, und seine Ehefrau Sophie trat zu ihm und richtete sie mit der Hand. Andreas fand, dass sie es in der für sie so typischen Art tat, nicht zärtlich und liebevoll, sondern eher tadelnd, weil alle Kinder versammelt waren und ihr zuschauten.
    Seine beiden Schwestern waren ebenfalls anwesend. Ellen hatte Tränen in den Augen und wischte sie mit einem Taschentuch fort, Maria wirkte verbissen und setzte sich. Poul und Andreas standen in Habachtstellung wie zwei preußische Schuljungen.
    Was bieten wir, unsere Familie, doch für einen Anblick, dachte Andreas.
    Er fand, dass der Art, wie sich seine Schwestern verhielten, immer etwas Weltfremdes anhaftete. Wie seine Mutter schienen auch sie durch ihre Ehemänner und Kinder zu leben. Ihr wichtigster Vorsatz bestand offenbar darin, keine Blicke auf sich zu ziehen, die Leute nicht »etwas glauben« zu lassen. Oder wie Ellen es auszudrücken pflegte: »Man soll einem anderen Menschen niemals etwas schuldig sein.« Andreas hatte nie begriffen, was sie damit meinte. Sollte man keine Geschenke annehmen, weil man sich sonst verpflichtet fühlte, Gegengeschenke machen zu müssen? Es war ihm völlig unverständlich, wie sie mit einer solchen Einstellung zum Leben existieren konnte.
    Beide Schwestern waren ihm ein Rätsel, er verstand weder ihre Bedürfnisse noch ihre Gedanken und ihre Art, Liebe zu zeigen. Wenn sie ihn anlächelten, spürte er bloß ihre Verachtung; wenn sie ihm ihre Verachtung zeigten, empfand er nur ihre unbestreitbare Zuneigung.
    Manchmal wünschte er sich, begreifen zu können, was in ihrem Kopf vor sich ging. Zu verstehen, was sie in ihrem tiefsten Inneren dachten, wenn sie vor ihrem schwerkranken Vater standen. An das Erbe, an alles, was folgen würde, Beerdigung und Einladungslisten, Kleider, die man kaufen, und Personen, zu denen man Kontakt aufnehmen würde, an das Praktische und in der Wirklichkeit Verankerte?
    Dinge, die greifbar waren?
    Man soll einem anderen Menschen nie etwas schuldig sein.
    Als Andreas im Schlafzimmer seines Vaters stand, verspürte er eine unbändige Lust, ihnen deutlich zu machen, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer sie eigentlich waren, seine Angehörigen, die mit ihm um das Bett versammelt standen. Er wollte ihnen erklären, dass er sie sein Leben lang gesehen und von ihnen nie etwas anderes gewusst hatte als ihre Namen.
    Und wenn er das gesagt hatte und sie ihn ansahen und die Nase rümpften, als zöge ein übler Geruch durch den Raum, würde er sagen, dass ihre Ehemänner, deren Blick auf Geld und Geschäfte, Kirche und Politik, Intrigen und Machtspielchen fixiert war, genauso oberflächlich und gekünstelt waren, wenn nicht noch schlimmer.
    Aber eigentlich war es gar nicht das, was er ihnen wirklich sagen wollte – eigentlich hätte er gewollt, dass sie ihn verstanden .
    Er spürte, dass kleine Schweißperlen auf seine Oberlippe getreten waren. Er strich sie mit dem Zeigefinger fort und merkte im selben Moment, wie stickig es im Zimmer war. Er fragte sich, wie es seinem Vater überhaupt möglich sein sollte, in dieser abgestandenen Luft und in Anwesenheit seiner Familie, die ins Nichts stierte, zu genesen.
    Plötzlich, ohne jede

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