Ein Vampir für alle Fälle
Doch da mussten sie noch eine Weile rätseln, vorerst jedenfalls. Ich fragte mich selbst, wieso ich es so eilig hatte. Remy Savoy würde sich schon nicht gleich in Luft auflösen, es sei denn, er war auch ein Elf. Was ich für höchst unwahrscheinlich hielt.
Bis zur Abendschicht im Merlotte's musste ich zurück sein. Aber ich hatte Zeit genug.
Auf der Fahrt schaltete ich das Radio ein; heute war ich in Country-und-Western-Laune. Travis Tritt und Carrie Underwood begleiteten mich, und als ich Red Ditch erreichte, fühlte ich mich schon selbst fast wie ein Cowboy. Red Ditch war noch unspektakulärer als Bon Temps, und das will schon was heißen.
Wie ich vermutet hatte, war es nicht schwer, die Bienville Street zu finden. Es war die Art Straße, wie es sie überall in Amerika gibt. Die Häuser waren klein, schmuck, quadratisch, mit einer Garage, in der Platz für ein Auto war, und einem kleinen Garten. Bei Haus Nummer 1245 war der hintere Garten umzäunt, und ein schwarzer kleiner Hund flitzte lebhaft darin herum. Eine Hundehütte war nirgends zu sehen, das Tier durfte anscheinend auch ins Haus. Alles war sehr gepflegt, aber nicht übertrieben. Die Sträucher ums Haus herum waren geschnitten und der Garten geharkt. Ich fuhr einige Male daran vorbei. Wie sollte ich vorgehen, fragte ich mich. Wie konnte ich herausfinden, was ich wissen wollte?
In der Garage stand ein Pick-up, Savoy war also vermutlich zu Hause. Ich holte tief Luft, parkte gegenüber dem Haus und versuchte, mit meinem Spezialtalent auf Jagd zu gehen. Doch in einer so dicht besiedelten Gegend mit so vielen lebenden Menschen war das äußerst schwierig. Ich meinte, zwei Gedankenströme herausfiltern zu können, die direkt aus dem Haus mit der Nummer 1245 kamen, sicher war ich allerdings nicht.
»Ach, egal.« Ich stieg aus dem Auto, stopfte mir die Schlüssel in die Jackentasche, ging schnurstracks auf die Haustür zu und klopfte.
»Warte, mein Junge«, sagte ein Mann drinnen, und ich hörte ein Kind rufen: »Daddy, ich! Ich will aufmachen!«
»Nein, Hunter«, erwiderte der Mann und öffnete selbst die Tür. Er schaute durch die Fliegengittertür und machte auch die auf, als er sah, dass ich eine Frau war. »Hi«, grüßte er. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich sah zu dem Jungen hinunter, der hinter ihm hergerannt kam und zu mir hochschaute. Er war ungefähr vier Jahre alt, Haar und Augen waren dunkel, und er war Hadley wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann sah ich den Mann wieder an. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert während meines anhaltenden Schweigens.
»Wer sind Sie?«, fragte er in einem völlig anderen Ton.
»Ich bin Sookie Stackhouse«, sagte ich einfach, da mir nichts anderes einfiel. »Hadleys Cousine. Ich habe gerade erst herausgefunden, wo Sie wohnen.«
»Sie können keine Ansprüche auf ihn haben«, sagte der Mann, und ich hörte seiner Stimme an, wie sehr er sich zusammenriss.
»Natürlich nicht«, erwiderte ich überrascht. »Ich wollte ihn nur mal kennenlernen. Ich habe nicht viel Familie.«
Wieder ein lastendes Schweigen. Er wog meine Worte und mein Auftreten ab und fragte sich, ob er die Tür einfach wieder zuschlagen oder mich einlassen sollte.
»Daddy, sie ist hübsch«, sagte der Junge, und das schien den Ausschlag zu meinen Gunsten zu geben.
»Kommen Sie herein«, sagte Hadleys Exehemann zu mir.
Ich sah mich in dem kleinen Wohnraum um, in dem ein Sofa und ein Lehnsessel standen, ein Fernseher und ein Regal voller DVDs und Kinderbücher. Und überall lag Spielzeug herum.
»Ich habe am Samstag gearbeitet, deshalb habe ich heute frei«, erklärte er, wohl damit ich nicht dachte, er sei arbeitslos. »Oh, ich bin übrigens Remy Savoy. Aber das wissen Sie wohl.«
Ich nickte.
»Und das ist Hunter«, sagte er, doch der Junge fremdelte plötzlich, versteckte sich hinter dem Bein seines Vaters und spähte hervor. »Setzen Sie sich doch«, fügte Remy hinzu.
Ich schob eine Zeitung zur Seite, setzte mich ans eine Ende des Sofas und versuchte, weder den Mann noch das Kind anzustarren. Meine Cousine Hadley war bildhübsch gewesen, und sie hatte einen gut aussehenden Mann geheiratet. Es war schwer zu sagen, wie dieser Eindruck zustande kam. Seine Nase war groß, sein Kinn etwas zu spitz, und seine Augen standen recht weit auseinander. Aber in der Summe war er ein Mann, auf den die meisten Frauen einen zweiten Blick werfen würden. Sein Haar war von einem schönen Mittelblond, das ins Braune tendierte, dick und stufig
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