Ein Vampir fuer alle Sinne
Livy wegen der Tränen, die sie durch ihre Krankheit bedingt vergoss, bei Gott einen schlechten Stand hatte und er sie nicht ihre Mutter sehen lassen würde? Wie …?
»Daddy?«
Paul versteifte sich und atmete hastig ein, um sich wieder zu beruhigen. Dann sah er mit ausdrucksloser Miene seine fünfjährige Tochter an, die in der Tür zur Küche stand. Und schon im nächsten Moment lief er zu ihr, um sie in seine Arme zu schließen. »Was machst du denn hier unten, Liebling? Du sollst doch nicht aufstehen.«
»Ich hab keine Lust mehr, im Bett zu liegen«, antwortete sie betrübt und hob die Hände, um nach seinem Kinn zu fassen. »Du blutest ja. Hast du dich geschnitten?«
»Nein … ja … es ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr und trug sie wieder in den ersten Stock. Sie war nur noch Haut und Knochen, was ihm einen Stich versetzte, als er sie im Arm hielt. Paul lebte für sie, und er würde auch für sie sterben, wenn es sein musste. Aber für den Augenblick musste er sie wieder ins Bett legen, weil er dringend ein paar Stunden Schlaf nachzuholen hatte. Die ganze Nacht über war er wach gewesen, und wenn er später mit Jeanne Louise Argeneau ein Gespräch führen wollte, musste er hellwach und bei klarem Verstand sein. Er musste sie davon überzeugen können, aus dem Mädchen eine von ihrer Art zu machen. Er würde alles dafür geben, sogar sein eigenes Leben, wenn sie seine Tochter bloß wandelte und ihr zeigte, wie man als Vampir in dieser Welt überlebte. Er würde alles geben für die Gewissheit, dass Livy weiterlebte. Bei ihrer Mutter – seiner Frau Jerri – hatte er schon versagt, aber das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Er musste Jeanne Louise dazu bringen, Livy das Leben zu retten. Sie war seine einzige Hoffnung.
2
Jeanne Louise wachte auf, da sie spürte, dass sich jemand bei ihr im Zimmer aufhielt. Es war kein Instinkt, der sie das bemerken ließ, sondern das leise Summen der Gedanken eines Sterblichen, das sich am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung bemerkbar machte. Diese Gedanken surrten wie eine Biene an ihrem Ohr vorbei und waren zunächst nicht deutlich zu verstehen, da sie noch nicht voll bei Bewusstsein war. Jeanne Louise schlug die Augen auf und drehte den Kopf zur Seite.
Es überraschte sie nicht, dass nicht der Mann neben ihrem Bett stand, sondern ein Kind. Es musste am Tempo und an der Leichtigkeit der Gedanken liegen, die sie von dem Kind empfing. Es waren sanfte, fragende und neugierige Gedanken, wie sie zu einem Kind passten, nicht das Gewichtige, Abwehrende und oft sogar Ängstliche, das sie für gewöhnlich bei erwachsenen Sterblichen vorfand.
Sie sah das Mädchen sekundenlang an und bemerkte, wie blass die Haut und wie ausgemergelt der Körper war. Das Kind sah so aus, als könnte eine kräftige Windböe es einfach davontragen. Ein Atemzug genügte, um zu wissen, dass die Kleine krank war. Es war der unangenehm süßliche Geruch von Krankheit, der das Kind umgab. Das Kind war nicht nur krank, sondern todkrank, erkannte Jeanne Louise mit einem Mal und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Sterbliche waren zwangsläufig viel jünger als Unsterbliche, wenn der Tod sie ereilte, doch in diesem zarten Alter kam das nicht oft vor. Es war eine Tragödie. Alle Hoffnungen und Erwartungen wurden zunichtegemacht, lange bevor sie überhaupt zum Tragen kommen konnten. So etwas war einfach grässlich.
»Hi«, flüsterte Jeanne Louise fast krächzend. Sie hätte wohl besser noch etwas mehr Wasser getrunken. Wie der Mann ihr zugesichert hatte, war es allem Anschein nach tatsächlich nicht mit Medikamenten versetzt gewesen. Da sie zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen hatte, war ihre Kehle nun wieder wie ausgedörrt, was entweder mit dem verabreichten Betäubungsmittel oder aber mit den Nanos zu tun hatte, die auf Hochtouren arbeiteten, um dessen Wirkung so schnell wie möglich zu bekämpfen.
Sie sammelte etwas Speichel im Mund, dann schluckte sie und machte einen neuen Anlauf: »Hallo. Wer bist du?«
»Ich bin Olivia Jean Jones«, sagte das Mädchen, das nervös mit einer langen blonden Haarsträhne spielte. »Aber alle sagen Livy zu mir.«
Jeanne Louise nickte ernst. Sie hätte die Kleine gar nicht nach ihrem Namen fragen müssen, da sie den bereits in ihren Gedanken gefunden hatte, ebenso den Namen ihres Vaters, der Jeanne Louise entführt und hier angekettet hatte: Paul Jones.
Sie ließ diese Information erst einmal auf sich beruhen und forschte stattdessen in den
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