Ein Vampir für gewisse Stunden: Argeneau Vampir 6
und fragte sich, wie er das meinte, aber im nächsten Moment redete er bereits weiter: „Es heißt, die Trauer dauert ein Jahr. Wie lange war Ihr Großvater tot, als Kenny Ihnen den Antrag gemacht hat?”
„Drei Wochen.”
„Ahh”, sagte er und nickte nachdrücklich. „Sehen Sie? Jeder Idiot würde wissen, dass Sie noch getrauert haben und nicht klar denken konnten.”
Leigh zuckte die Schultern. Sie hatte immer gern behauptet, Kenny sei nie besonders helle gewesen, doch das stimmte nicht. Idioten wurden in Harvard nicht zugelassen, aber genau dort hatten sie sich kennengelernt.
„Vor der Hochzeit hat er Sie nicht geschlagen?”
„Lieber Himmel, nein! Dann hätte ich ihn niemals geheiratet.”
„Es begann mit Beschimpfungen, richtig?”
„Ja: Er beschimpfte mich als dumm, fett und so weiter.”
„Er hat gezielt nach Ihren Schwachstellen gesucht.”
„Sie sagen das so, als sei es offensichtlich, dass das meine Schwachstellen sind”, konterte sie.
„Sie haben doch die Schule verlassen, als Ihr Großvater starb. Dadurch waren Sie unsicher, was Ihre Fähigkeiten anging.”
„Und dass ich fett war?”, hakte sie argwöhnisch nach.
Er machte eine amüsierte Miene. „Jede sterbliche Frau glaubt, sie sei fett, selbst wenn sie spindeldürr ist. Ich hatte Mal ein Dienstmädchen, und diese junge Frau hielt sich auch für fett. Ihr Ehemann unterstützte sie in dieser Meinung. Sie war so dünn, dass die Hüftknochen deutlich hervortraten, aber ihr Mann beharrte darauf, sie habe einen fetten Hintern. Und sie hat es ihm geglaubt.” Er schüttelte den Kopf, da er offenbar Mühe hatte, diese Denkweise zu verstehen. Leigh lächelte schwach und fragte:
„Sie sagen, alle sterblichen Frauen halten sich für fett. Tun unsterbliche Frauen das nicht?”
„Wie sollten sie das? Die Nanos achten darauf, dass wir uns immer in perfekter körperlicher Verfassung befinden. Das ist ihr Job, und deshalb kann ein Unsterblicher nie fett sein.” Er musste grinsen. „Rachel war enttäuscht, dass sie nach der Wandlung nicht spindeldürr wurde, aber so sollte es nicht sein. Inzwischen weiß sie, dass sie eine perfekte Rachel ist, und jetzt bereitet ihr das kein Kopfzerbrechen mehr.” Plötzlich musste er grinsen. „Jedenfalls fast perfekt. Leider können die Nanos an der Persönlichkeit eines Unsterblichen nichts ändern.”
Leigh lachte über seine Worte. „Dann habe ich mit meiner Einschätzung, dass Rachel nicht allzu gut auf Sie zu sprechen ist, doch richtiggelegen.”
„Ich tue, was ich tun muss, um meine Familie und mein Volk zu beschützen”, gab er frostig zurück.
„Damit mache ich mich nicht immer beliebt.”
„Das kann ich gut verstehen. Als Eigentümerin des Coco’s muss ich manchmal auch Entscheidungen treffen, die mir nicht gefallen.”
„Eigentümerin?”, wiederholte er verblüfft. „Ich dachte, Sie arbeiten dort an der Bar. Bricker und Mortimer....”
„Ich übernehme manchmal nachts die Bar, wenn jemand ausfällt, aber mir gehört das Lokal”, erklärte sie. „Donny ist die ganze Woche nicht zur Arbeit erschienen, und ich bin eingesprungen. Darum haben mich Morty und Bricker auch dort gesehen.” Verwundert kratzte sie sich am Kopf. „Die beiden essen immer noch. Jedenfalls Bricker. Mortimer scheint nur in seinem Essen herumzustochern.”
„Er war nur da, um Bricker Gesellschaft zu leisten. Bricker ist jünger und isst noch herkömmliche Nahrung.”
„Das machen Sie auch”, stellte Leigh fest, da er soeben von ihrem Teller die Würstchen stibitzt hatte, die sie nicht mehr schaffte. Lucian kaute plötzlich langsamer, und ein sonderbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Bevor sie ihn jedoch darauf ansprechen konnte, kam die Kellnerin wieder an ihren Tisch.
„Sind Sie satt, oder kann ich Ihnen noch was bringen?”, fragte sie gut gelaunt.
„Wir sind fertig”, erwiderte Lucian, sah zu Leigh und fügte hinzu: „Wir sollten uns auf den Rückweg machen. Es ist nach acht, und ab halb neun ist mit dem Kurierfahrer zu rechnen.”
Leighs Augen begannen bei dieser Aussicht zu strahlen. „Dann können wir einkaufen gehen.”
12
„Ich werde noch mal nachschauen.” Lucian sah von seinen Notizen auf und lächelte unwillkürlich, als Leigh das Buch zur Seite legte, das sie eigentlich lesen wollte, und zur Tür ging. Seit genau einer Stunde und einundzwanzig Minuten waren sie wieder zu Hause, und in dieser Zeit war sie mindestens dreißig Mal zur Haustür gelaufen, um nachzusehen,
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