Ein Vampir für jede Jahreszeit
wirklich?« Alice blickte sich nervös um. »Vielleicht hat sich auch nur der Knoten gelöst und es ist davongelaufen.«
»Ausgeschlossen, ich habe es sorgfältig festgebunden. Beide Pferde.« Jonathan machte sein Tier los und blickte sich finster um. »Jemand muss Eures gestohlen haben.«
»Oh je.« Ihr Blick wanderte über die Bäume und den Stamm, an dem ihr Pferd festgemacht gewesen war. »Ach …« Ihre Miene hellte sich auf. »Ich kann mit meinem Onkel zurückreiten. Die beiden warten doch auf der Lichtung auf uns.«
»Richtig.« Jonathan nickte und schob einen Fuß in den Steigbügel. Alice schickte sich an, durch den Wald zurückzulaufen, als sie hörte, wie er nach ihr rief.
»Was habt Ihr vor?«
Sie sah über die Schulter. »Ich will zurück zur Lichtung gehen, um …« Weiter kam sie nicht, denn ihr Fuß verfing sich in einem Ast und sie stürzte. Verlegen murmelnd hockte sie sich schnell wieder auf die Knie, blieb dann aber wie erstarrt sitzen. Ein blauer Stofffetzen, der sich nah bei ihrem Gesicht in einem Zweig verfangen hatte, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Dieselbe Farbe hatte doch auch Lady Fairleys Kleid … Da wurde sie jäh unter den Achseln gepackt und auf die Füße gestellt.
»Alles in Ordnung?«
Alice registrierte überrascht Lord Jonathans Besorgnis und blickte zu ihm auf. Er sah sie nicht direkt an, sondern ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, gefolgt von seinen Händen, um sich zu versichern, dass sie sich nicht verletzt hatte. Sie errötete unter der vertraulichen Berührung seiner Finger und trat schnell einen Schritt zurück, wobei sie erneut beinahe gestolpert wäre.
»Es geht mir gu-gut«, beteuerte sie ein wenig atemlos. Er hielt sie am Arm fest, damit sie nicht fiel. »Wirklich«, fügte sie hinzu, da er noch nicht beruhigt schien. Er sah sie kurz an, schluckte und nickte dann, ehe er wieder die Zügel seines Pferdes ergriff.
Erneut irrte ihr Blick zu dem kleinen, blauen Stofffetzen, doch ehe sie Jonathan darauf aufmerksam machen konnte, packte er sie um die Taille und hievte sie auf sein Reittier.
Augenblicklich hob sie an zu protestieren. »Also wirklich, Mylord, wir müssen doch nicht beide reiten. Ich kann auch zur Lichtung laufen. Ich …«
Sie gab jedoch schnell auf, in erster Linie, weil er ihrem Widerspruch keinerlei Beachtung schenkte. Stattdessen stieg er vor ihr aufs Pferd und führte ihre Hände um seine Taille.
»Festhalten«, wies er sie an.
Alice lehnte sich an seinen Rücken und atmete tief, um ihre aufgewühlte Nerven zu beruhigen. Die Nähe eines Mannes zu spüren, war neu für sie. Noch nie zuvor war es so weit gekommen. Ledigen Damen waren solche Vertraulichkeiten nicht gestattet. Allerdings waren dies besondere Umstände und …
Ihre Gedanken verwirrten sich, denn sein Duft stieg ihr in die Nase. Er roch nach den Wäldern und dem Fluss und … nach Mann. Eine erstaunlich angenehme Mischung. Sie schnupperte und umklammerte dabei seine Körpermitte, spürte, wie seine Bauchmuskeln arbeiteten, und legte die Finger flach darüber, um alles genau fühlen zu können – bis ihr aufging, was sie da tat und es ihr vor Scham schier den Atem verschlug. Hastig hielt sie die Finger ganz still.
Allerdings konnte Alice nicht für immer den Atem anhalten. Sie schaffte es zwar für die Dauer des kurzen Ritts zurück zur Lichtung, doch dort angekommen, atmete sie mit einem leisen Zischen aus. Die Lichtung war verlassen. Lady Fairley und ihr Onkel hatten nicht auf sie gewartet, sondern waren offenbar schon vorausgeritten. Alice erinnerte sich wieder an das kleine Stoffstück, das sie in der Nähe der Pferde entdeckt hatte, und fragte sich, was Lady Fairley wohl bei den Tieren zu suchen gehabt hatte. Sie hatte doch nicht etwa Alices Reittier losgebunden? War sie etwa so böse auf sie gewesen, dass sie die Absicht gehabt hatte, sie zur Strafe zur Burg zurücklaufen zu lassen?
»Wenn wir sie noch einholen wollen, müssen wir uns beeilen«, erklärte Lord Jonathan.
Er trieb das Pferd zum Trab an. Alice heftete den Blick auf seinem Hinterkopf, schmiegte sich an ihn und klammerte sich fest. Diesmal hielt sie den Atem nicht an, sondern saß aufrecht hinter ihm, drückte ihre Brüste gegen seinen Rücken, verschränkte die Hände vor seinem Bauch und atmete tief seinen Duft ein. Das war so schön, dass es eine ganze Weile dauerte, ehe sie bemerkte, dass sich Jonathan seiner Behauptung zum Trotz nicht sonderlich bemühte, ihren Onkel und seine Mutter einzuholen.
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