Ein verboterner Kuss
Erzählungen nach war er ihr immer wie ein liebevoller, fürsorglicher Vater vorgekommen. Als Waise hatte Grace besonders gern zugehört, wenn andere von ihren Eltern erzählt hatten. Sie und Melly hatten stets geglaubt, dass Melly nur wegen Geldmangels nicht debütiert hatte. Jetzt allerdings begann sie daran zu zweifeln.
Was für ein Vater würde seiner einzigen Tochter so etwas antun?
Die arme Melly, die nie einen Verehrer gehabt hatte, war zu einer lieblosen, kinderlosen Ehe mit einem Mann verdammt, der sie gar nicht wollte - wenn Grace es nicht gelang, ihr zu helfen.
Sie dachte über die Ungerechtigkeit des Lebens nach, während sie sich am Haltegriff festhielt und in die draußen vorbeifliegende Landschaft starrte. Man konnte nicht behaupten, dass sie nie einen Verehrer gehabt hätte. Im Gegenteil: Viele hatten sich gewünscht, um ihre Hand anhalten zu dürfen. Die meisten wollten sie wegen ihrer Schönheit und ihres Vermögens, aber wohl nur wenige Männer um ihrer selbst willen. Das vermutete sie jedenfalls.
Das Problem war, dass sie keinen einzigen von ihnen gewollt hatte.
Sie hatte wirklich versucht, sich zu verlieben - ein paar der Männer, die um sie geworben hatten, waren tatsächlich nett gewesen. Aber immer hatte irgendetwas gefehlt, immer hatte sie irgendetwas zurückschrecken lassen. Und das war nicht nur das Fehlen einer gewissen ... Magie gewesen.
Ein Großteil des Problems war, dass ihr die Zuversicht fehlte. Grace konnte einfach nicht den unerschütterlichen Glauben an die große Liebe aufbringen. Ihre älteren Schwestern waren da anders. Prudence, Charity, Hope und Faith konnten sich noch alle an die große Liebe zwischen ihren Eltern erinnern. Auch wenn sie damals noch klein waren, so hatten sie sie dennoch gespürt, hatten ihre Wärme und ihre Intensität fühlen können. Sie hatten sie nie infrage gestellt. Grace’ Geschwister wussten, dass Liebe etwas Wirkliches, Greifbares und Allmächtiges war. Sie alle glaubten an Mamas Versprechen auf dem Sterbebett, dass jede ihrer Töchter eines Tages Liebe, Lachen, Sonnenschein und Glück finden würde. Nur Grace glaubte nicht daran.
Sie konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Sie war in einem kalten, düsteren Herrenhaus in Norfolk aufgewachsen, nicht in einer sonnendurchfluteten italienischen Villa. Und im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie keine Garantie, kein Liebesversprechen von ihrer toten Mama, um sich daran festhalten zu können.
Sie hatte miterlebt, wie sich jede ihrer Schwestern verliebt hatte. Ihr Glück war echt und anhaltend. Immer wieder versicherten sie ihr, dass auch ihr das eines Tages widerfahren würde.
Eines Tages wird dich ein Mann küssen, und dann weißt du es ...
Mamas Versprechen, riefen sie ihr immer wieder in Erinnerung. Mamas Versprechen.
Grace hatte es so sehr versucht, daran zu glauben, hatte sich so sehr bemüht, sich zu verlieben, aber ... sie konnte es einfach nicht.
Also hatte sie geflirtet und die Annäherungsversuche der jungen Männer mit Humor pariert, sorgsam darauf bedacht, dass sich niemand dadurch verletzt fühlte. Zudem sollte niemand ahnen, was in ihr vorging.
Die Worte ihres Großvaters quälten sie stets von Neuem, wenn sie sich traurig und niedergeschlagen fühlte, wenn sie es wieder einmal nicht geschafft hatte, mehr für einen wirklich netten Mann zu empfinden. Sie konnte keinen Mann heiraten, nicht einmal einen netten. Denn auch dessen Küsse ließen sie kalt.
Das spielt keine Rolle, sagte sie sich zum sicher tausendsten Mal. Viele Menschen konnten ohne Liebe leben. Sie war bestimmt imstande, sich ein gutes Leben aufzubauen. Mehr als gut - sie war fest entschlossen, dass es herrlich werden würde!
Es würde nicht mehr lange dauern und sie war unabhängig. Sie war fast einundzwanzig und somit im Begriff, demnächst allein über ihr privates Vermögen zu bestimmen. Sobald sie im Besitz dieses Vermögens war, konnte sie leben, wie und wo sie wollte. Sie konnte all die Abenteuer verwirklich, von denen sie ihr Leben lang geträumt hatte - nach Ägypten, Venedig und Konstantinopel reisen, die Weltwunder bestaunen, auf einem Kamel reiten und die Alpen in einer Ballongondel überqueren, so wie ihre Eltern das getan hatten. Und niemanden brauchte sie dazu um Erlaubnis zu bitten.
Wenn sie heiratete, gehörte ihr Körper ihrem Ehemann, genau wie ihr Vermögen. Die Kutsche holperte und schwankte. Die Küsse eines Mannes konnten das doch unmöglich wert sein ...
„Bring dein Haar in
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