Ein verboterner Kuss
Deckel klemmte. Ängstlich sah sie Grace an. „Das ist doch keine Zwangsräumung, oder?“
„Nein, natürlich nicht“, versicherte Grace. „Ich weiß nicht, was für ein Schreiben das ist, aber ich verspreche Ihnen, kein Mensch wird von seinem Besitz vertrieben.“
Mrs Finn wirkte nach wie vor skeptisch. „Ein Brief, der so aussieht, verheißt nie etwas Gutes. Ist er von einem Anwalt?“ Billy nahm ihr den Brief aus der Hand. „Lass mich einmal sehen.“ Stirnrunzelnd überflog er das große Schreiben mit dem amtlichen Siegel, dann faltete er ein kleineres, ganz normal aussehendes Blatt Papier auseinander. Er las die ersten Zeilen, sah Dominic in die Augen und fragte mit einer Mischung aus Hoffnung und Trotz: „Soll das ein Scherz sein?“ „Nein, Billy, der Brief ist echt“, erwiderte Dominic ruhig.
Billy schluckte und drehte sich zu seiner Mutter um. „Das Schreiben ist vom Gouverneur von New South Wales, Mam, und der Brief hier ist von Dad.“ Als die erstaunten Ausrufe verstummt waren, las er vor:
Meine liebste Annie,
ich hoffe, dir und den Kleinen geht es gut. Ich schreibe dir, weil ich dir sagen will, dass ich ein freier Mann bin. Meine Strafe ist aufgehoben worden. Lord D’Acre hat sich an den Gouverneur gewandt und ihm erklärt, ich wäre zu Unrecht verurteilt worden. Er sagte ihm, ich hätte nie etwas Falsches getan.
Mrs Finn schluchzte auf und umarmte das am nächsten bei ihr stehende Kind. Billy fuhr mit brüchiger Stimme fort.
Ich kann nicht nach England zurückkehren, aber New South Wales ist nicht so schlimm, wie wir befürchtet haben. Es gibt hier zu wenig Farmer und alle brauchen etwas zu essen, daher hat man mir ein Stück Land überlassen. Ich bin jetzt Farmer, Annie, auf meinem eigenen Grund und Boden.
„Auf seinem eigenen Grund und Boden!“ Durch die Menge ging ein Raunen.
Das Leben hier ist gut und angenehm, deswegen spare ich jetzt Geld, damit du und die Kinder zu mir kommen könnt ...
Annie schluchzte noch lauter und umklammerte ihre Kinder. „Die weite Reise! Das wird ihn ein Vermögen kosten!“
„Sieh in deine Schachtel“, forderte Dominic sie sanft auf. Totenstille kehrte ein, während Annie langsam ihre Weihnachtsschachtel öffnete. In ihr lag ein Beutel Geld. Als Annie ihn aufschnürte und sah, wie viel es war, fiel sie beinahe in Ohnmacht.
„Damit kannst du für dich und deine Kinder eine Passage nach New South Wales kaufen. Oder du kannst es für deine Kinder verwenden, wenn du lieber hierbleiben möchtest.“
Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes, leuchtendes Gesicht zu. „Wenn ich nicht gehen möchte? Nicht zu meinem geliebten Will? O doch, Mylord, wir fahren zu ihm, sobald wir können.“ Sie ergriff seine Hand und versuchte sie zu küssen, doch das ließ Dominic nicht zu. „Ich danke Ihnen, Mylord, vielen, vielen Dank.“
„Unsinn“, wehrte er schroff ab. „Ich mache nur das Unrecht wieder gut, das Ihnen durch die Achtlosigkeit meines Vaters zugefügt worden ist.“
Billy faltete den Brief zusammen und drehte sich zu den staunenden Leuten um. „Seht ihr? Ich habe euch doch gleich gesagt, dass er ein Guter ist“, rief er jubelnd.
An jenem Abend gingen Dominic und Grace Arm in Arm langsam nach oben und traten dabei in die Mulden, die die Schritte seiner Vorfahren auf den Stufen hinterlassen hatten. Dominic betrachtete Grace von der Seite. Sein Herz war übervoll, er vermochte nicht zu sprechen.
„Sieh mal nach oben“, forderte Grace ihn auf.
Er tat es und sah den Wasserspeier von Wolfestone Castle über sich. Um sein weises altes Gesicht rankten sich Mistelzweige.
„Ich glaube, er möchte, dass wir uns küssen, meinst du nicht auch?“
Also küssten sie sich. Und dieser Kuss war absolut vollkommen.
—Ende —
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