Ein verboterner Kuss
Ordnung, Mädchen! Du bist ganz zerzaust vom Wind.“
„Ja, Sir John.“ Grace hob die Hände, um glättend über ihr Haar zu streichen. Wieder erschrak sie, als sie die spröden und gefärbten Locken unter ihren Fingern spürte. Kein Mensch würde sie mehr als Grace Merridew erkennen.
Nach Grace’ Anweisungen hatte Consuela, Tante Gussies Zofe, ihr die Haare kürzer geschnitten und sie dunkelbraun gefärbt. Einer Eingebung folgend hatte Consuela mit Henna Sommersprossen auf Grace’ Gesicht, Händen und Dekolleté getupft. Selbst mit Wasser ließen sich diese falschen Sommersprossen nicht abwaschen.
Natürlich würden sie mit der Zeit verblassen, hatte Consuela der entsetzten Tante Gussie versichert. Grace würde sie ab und zu erneuern müssen, aber bis dahin würde der kurzsichtige Sir John niemals auf die Idee kommen, dass die braunhaarige, sommersprossige Greystoke in Wirklichkeit Miss Grace Merridew war, die für ihr rotgoldenes Haar und ihren makellosen Pfirsichteint berühmt war. Er war Grace nur wenige Male begegnet, seit die Mädchen das Pensionat verlassen hatten. In der richtigen Umgebung hätte er die Freundin seiner Tochter wahrscheinlich wiedererkannt, aber nicht unter diesen Umständen. Darauf hatte sie gesetzt, und sie hatte recht behalten.
Flüchtig trauerte sie ihren langen rotgoldenen Haaren nach. Mellys Babys, rief sie sich zum ungezählten Mal in Erinnerung.
Grace teilte Mellys Leidenschaft für Babys nicht. Sie mochte Kinder, aber erst, nachdem sie angefangen hatten zu laufen und zu sprechen und kleine Menschen geworden waren. Melly hingegen vergötterte Babys, selbst wenn sie volle Windeln hatten und schrien.
Mellys Träume waren ganz einfach. Sie wollte keinen Lord, kein vornehmes Londoner Stadthaus und auch kein großes Vermögen. Sie wünschte sich nur einen netten Mann, der sie liebte, heiratete und ihr Kinder schenkte. Grace glaubte, dass wohl jedes Mädchen von so etwas träumte.
Jedes Mädchen außer Grace.
Deshalb war sie auch so fest entschlossen, dass Melly ihre Träume nicht opfern sollte. Sich das Haar abzuschneiden, bedeutete gar nichts. Haare wuchsen wieder nach, die Träume der Menschen jedoch nicht. Träume zerbrachen und mit ihnen bisweilen auch die Menschen.
Lord D’Acre, Dominic Wolfe of Wolfestone Castle, konnte mit seinen Geldsäcken und seinen kaltherzigen Vorstellungen von einer Ehe zum Teufel gehen.
Grace würde ihre Freundin retten - wie der edle Ritter, der die Prinzessin vor dem Drachen rettet! Sie dachte kurz über den Begriff nach. Ritterin vielleicht?
Dominic Wolfe ritt die letzten Meilen ganz langsam, dabei senkte er den Kopf gegen den plötzlich aufkommenden Wind. Dunkle Wolken zogen bedrohlich am Himmel auf. Unwetter im Sommer waren immer heftig und laut, mit Donner und Blitz verbunden. Bevor es losgeht, bin ich in Wolfestone, dachte er.
Wie immer bei dem Gedanken an Wolfestone, presste er unwillkürlich die Zähne aufeinander. Diesen Ort hatte er eigentlich nie Wiedersehen wollen. Zur Hölle mit den Pettifers und ihrem plötzlichen Entschluss, herzukommen! Er hätte Sir John viel deutlicher klarmachen sollen, was ihre Abmachung beinhaltete. Wahrscheinlich glaubte die Tochter, sie würde ihr zukünftiges Zuhause in Augenschein nehmen. Ein harter Zug trat um seinen Mund.
Ein Blitz zuckte auf, und in der Feme grollte der Donner. Dominic sah hinunter auf die Hündin, die neben ihm trottete. Sie hatte die Ohren kläglich angelegt; Sheba hatte schreckliche Angst vor Donner. Er bückte sich, hob sie hoch und setzte sie vor sich in den Sattel. Pferd und Hund waren diese Art zu reiten gewohnt.
Es war eine lange Reise gewesen. Wäre ihm mehr Zeit geblieben, hätte er eine Kutsche benutzt. Er hatte versucht, die Pettifers von ihrer Reise abzuhalten, aber sein Bote war mit der Nachricht aus London zurückgekehrt, dass sie bereits aufgebrochen waren. Wenn er also noch vor ihnen eintreffen wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als von Bristol aus mit dem Pferd zu reiten.
Es war jetzt nicht mehr weit. Durch die Bäume entdeckte er eine Turmspitze. Ein seltsamer Schauer überlief ihn. Angst? Zorn? Eine düstere Vorahnung? Vielleicht sogar ein Funken Sehnsucht wie damals als Kind, in jenen längst vergangenen, unschuldigen Tagen, als er noch von Wolfestone geträumt hatte. Ein Funken, der sein Erwachsenwerden, sein Wissen überdauert hatte.
Er wandte den Blick ab und verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. Wolfestone. Der Ort, für den seine
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