Ein verführerischer Akt
beschwören können.«
Sie musste an den Stallburschen von Madingley House denken, der sie zum Bahnhof begleitet hatte, dazu eine Reihe von Mitreisenden, vor allem die Seymours aus ihrem Abteil. Windebank würde ein kompliziertes Lügengebäude konstruieren, das indes auf einem Fundament aus Wahrheiten ruhte.
»Sie sind auf Ihrem Weg nach Norden hier abgestiegen«, fuhr Harold Windebank fort und ließ sie nicht mehr aus den Augen. »Sie waren ganz aufgeregt, denn schließlich wollten Sie nach Gretna Green, um dort heimlich zu heiraten.«
Er legte eine Pause ein, als erwarte er, dass sie etwas sagte, doch sie zog es vor zu schweigen. Die Geschichte klang verdammt gut.
»Dann kam es zu einem tragischen Zwischenfall«, sagte er und wich ihrem Blick aus.
»Ihre Kutsche fing Feuer, als Sie gerade aus dem Stallgebäude fuhren. Vermutlich ausgelöst durch eine defekte Laterne, was sich leider nicht mehr feststellen ließ, da Sie beide trotz aller Rettungsversuche bei dem verheerenden Feuer verbrannten.«
Verachtung und Wut lagen in ihrem Blick. »Das wird auf keinen Fall klappen. Julian weiß, wozu Sie in der Lage sind.«
»Mein Neffe hat keine Ahnung, wie viele Männer auf meinem Gut auf ihn warten.« Er stand auf und rückte gelassen seine Weste zurecht. »Ich lasse es Sie wissen, wenn er eintrifft.«
Und dann ließ er sie allein mit ihrer wachsenden Angst.
Die Stunden vergingen. Immer wieder schaute sie zur Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, und zudem zeigte ihr die sinkende Sonne, dass der Tag sich dem Ende entgegenneigte. Niemand brachte Rebecca etwas zu essen oder zu trinken – offenbar hielt Windebank es nicht für nötig, jemanden zu versorgen, der ohnehin so gut wie tot war. Sie schaute aus dem Fenster und rang die Hände, als sich die Dunkelheit herabsenkte. Hielt Julian sich bereits irgendwo da draußen auf?
Wohl zum zehnten Mal versuchte sie, eines der Fenster zu öffnen, doch alle waren von draußen mit Balken gesichert, sodass sie sich nicht aufdrücken ließen. Sollte sie eine der Scheiben einschlagen, um flüchten zu können? Aber wenn sie sich dabei verletzte, war sie für Julian von gar keinem Nutzen mehr, überlegte sie.
Plötzlich sah sie im Dunkeln ein Licht aufblitzen und hörte kurz darauf ein leises Knallen. Hatte jemand geschossen? Vor Entsetzen legte sie beide Hände auf den Mund. Würde man tatsächlich auf Julian schießen, obwohl Windebank ihn eigentlich lebend brauchte, zumindest bis er den Diamanten hatte?
Wieder hörte sie, wie die Tür hinter ihr sich öffnete. Sie wirbelte herum, um Windebank zur Rede zu stellen, ihm an den Kopf zu werfen, was sie von ihm und seinen Henkersknechten dachte, als sie überrascht innehielt. Eine Frau stand da, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, und musterte sie. Rebecca tat das Gleiche. Sie mochte vielleicht zehn bis fünfzehn Jahre älter sein als Rebecca, denn ein feines Netz aus Fältchen zog sich um ihre Augen, und um ihren Mund waren bereits tiefere Falten eingegraben. Ihr blondes Haar trug sie zu einer modischen Frisur hochgesteckt, und ihr Kleid wirkte stilvoll und elegant. Zweifellos handelte es sich um die Dame des Hauses, Julians Tante. Eine recht jugendliche Tante, stellte Rebecca zu ihrer Überraschung fest.
Wusste ihr Ehemann, dass seine labile, bisweilen verwirrte Frau die Gefangene aufsuchte?
»Sie müssen Lady Florence sein«, sprach Rebecca sie freundlich an.
»Haben Sie meine Halskette?«
Kein Drumherumgerede. »Nein, ich habe sie nicht.«
»Aber Sie haben sie getragen. Das weiß ich.«
Sowohl in ihrem Blick als auch in ihrer Stimme lag ein Anflug von Verschlagenheit. Dann sah sie mit zur Seite gelegtem Kopf in eine andere Richtung, als würde sie irgendjemandem lauschen. Windebank hatte Stimmen erwähnt. Was für ein trauriges Leben.
»Ich hatte mir die Kette nur kurz ausgeliehen«, erklärte Rebecca, »doch jetzt befindet sie sich wieder bei ihrem rechtmäßigen Besitzer.«
»Man nennt den Diamanten ›Das Herz Indiens‹, wissen Sie. Ein alberner Name, aber der Stein ist hübsch, so hübsch – und er gehört mir.«
Sollte sie einfach auf alles eingehen, was die Frau sagte?
Wieder meinte Rebecca in der Ferne Schüsse zu hören, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Nein, hier bot sich vermutlich ihre einzige Gelegenheit, Julian zu helfen, indem sie die Frau ablenkte.
»Erinnern Sie sich an Roger Eastfield?«, fragte Rebecca.
»Er hat ein Bild von mir gemalt.« Sie drehte sich anmutig um die eigene Achse.
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