Ein verführerischer Schuft
verlassen.«
Sie betrachtete sein Gesicht, seine Augen; ein langer Moment verstrich, dann fragte sie:
»Das war die dringende Nachricht, die er dir heute Abend geschickt hat, nicht wahr?«
Sein Kinn schob sich unwillkürlich vor.
»Er wusste, dass ich es würde wissen wollen.«
Sie blinzelte, dann verschleierten ihre Lider ihre Augen.
»Ich konnte es dir einfach nicht sagen.«
Ein Herzschlag verging, dann fuhr sie fort:
»Ich durfte es nicht riskieren.«
In ihrem Ton lag keine Entschuldigung; sie stellte eine Tatsache fest - und zwar so, wie sie es sah.
Er atmete durch und schaute blicklos ins Zimmer. Berücksichtigte er, was er nun alles über sie wusste, den Plan inbegriffen, den sie und Adriana seiner Vermutung nach ersonnen hatten, die Zuneigung zu und das Pflichtbewusstsein gegenüber ihrer Schwester und fast mehr noch ihren Brüdern, konnte er ihr keinen Vorwurf daraus machen. Jeglicher Hinweis darauf, dass sie nicht die Witwe war, für die die gute Gesellschaft sie hielt, würde selbst jetzt in ein Fiasko münden. Jegliche Chance darauf, dass Adriana eine gute Partie machte, würde sich in Luft auflösen. Sie würden dadurch zu gesellschaftlich Aussätzigen werden, von dem Ton verstoßen, gezwungen, sich in ihr Häuschen auf dem Lande zurückzuziehen und sich irgendwie über Wasser zu halten, für sich selbst und ihre Geschwister irgendwie ein Auskommen zu finden.
Ihm die Wahrheit anzuvertrauen …
Plötzlich begriff er, dass sie das ja hatte. Sie hatte es ihm nur nicht mit Worten gesagt.
Sein Schweigen bereitete ihr Sorgen; sie versuchte, ein Stück von ihm abzurücken. Noch ehe er den Gedanken formen konnte, schlossen sich seine Arme fester um sie, hielten sie an seiner Seite fest.
»Nein - ich weiß doch.«
Sie wurde ruhig, er holte noch einmal Luft, dann blickte er auf ihren gesenkten Kopf.
»Ich verstehe es.«
Als sie nicht aufschaute, beugte er sich vor und hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel, dann hob er sachte ihr Kinn.
Jetzt sah sie ihn an, in die schwarzen Augen, die mehr als Verständnis versprachen. Sicherheit, Schutz vor beidem, den realen und den eher nebulösen Gefahren der Welt; aber für sie viel wichtiger war das seltsame und neuartige Gefühl der Erleichterung, dass sie nun jemanden hatte, mit dem sie offen ihre Gedanken austauschen konnte, ihre Sorgen und Pläne teilen. Jemanden, der wirklich begriff.
Seine Augen waren forschend auf ihre gerichtet; wie um das zu bekräftigen, was sie in seinem Blick gelesen hatte, bat er:
»Erzähl mir, wie das alles passieren konnte - du, deine Schwester und euer Plan.«
Es war kein Befehl, sondern eine Bitte, eine, die abzuweisen sie keinen Grund sah; besser er wusste alles als nur die halbe Geschichte. Sie lehnte sich an ihn, spürte, wie seine Arme sich fester um sie schlossen.
»Es begann, als Papa starb.«
Sie berichtete ihm alles, erklärte sogar, was sie mit Mr. King verband. Obwohl er kein Wort sagte, konnte sie spüren, dass er es nicht billigte, aber für den Moment akzeptierte und keine Einwände erhob. Sie war überrascht, als er sie nach ihren Kleidern fragte, und sandte ein stummes Dankgebet zum Himmel, dass nicht alle so scharfsinnig waren wie er.
Als sie im Gegenzug von ihm wissen wollte, weshalb er ihren vermeintlichen Ehemann hatte überprüfen lassen, erklärte er ihr, dass er die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, dass ein anderer Carrington in die Sache verstrickt war. Dadurch kamen sie auf das Thema Ruskin und die verschiedenen Ermittlungsrichtungen. Sie diskutierten, tauschten Gedanken aus, erwogen Wahrscheinlichkeiten - kurz, ein geistiger Austausch, wie sie ihn bislang mit sonst niemandem kennengelernt hatte.
Allmählich wurden die Pausen länger, angenehme Wärme hüllte sie ein. Sie lag wohlig in seinen Armen, lauschte auf den Schlag seines Herzens unter ihrer Wange. Sie waren zugedeckt, und sie lag ausgestreckt halb neben, halb auf ihm, eine Hand ruhte auf seiner Brust. Einen muskulösen Arm hatte er um sie geschlungen, seine Hand lag schwer auf ihrer Taille.
Von Rechts wegen müsste sie - davon war sie insgeheim überzeugt - Verlegenheit verspüren, jungfräuliche Scheu, dass sie nackt war - einmal ganz abgesehen davon, was dazu überhaupt geführt hatte. Stattdessen machte die Intimität sie beinahe süchtig, ein merkwürdiges Gefühl von Nähe, unbeschreiblicher Wonne - es fühlte sich schlicht und ergreifend einfach richtig an. Verständlicherweise wollte sie es nicht beenden.
Er schaute sie
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