Ein verführerischer Schuft
nicht einmal seiner Mutter; mit ruhiger stetiger Stimme berichtete er ihr, wie sein Leben in Wirklichkeit in den vergangenen dreizehn Jahren ausgesehen hatte.
Seine Stimme wankte nicht, sein Tonfall war beinahe leidenschaftslos, als läge seine dunkle und trübe Vergangenheit in weiter Ferne. Die Kutsche rollte weiter; sie unterbrach ihn nicht, gab keinen Laut von sich oder stellte gar Fragen. Gab kein Urteil ab, aber er konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie zu entsetzt war und daher sprachlos oder einfach noch nicht genug gehört hatte, um es wirklich zu begreifen und entsprechend zu reagieren.
Er wusste auch nicht, wie ihre Reaktion aussehen würde. Eine erstaunliche Zahl derer, deren Leben und Vorrechte zu bewahren er und seine Mitstreiter wieder und wieder ihr Leben riskiert hatten, waren der Ansicht, dass solche Pflichten, wie er sie übernommen hatte, Täuschung und Lügen erforderten. Daher, so war die allgemeine Meinung, hatten sie nichts Ehrenwertes und brandmarkten ihn auf ewig als unehrenhaft.
Das Wissen, dass jemand, der ihn in seinem Heim willkommen hieß, vielleicht mit Abscheu auf die Wahrheit seines Lebens reagieren könnte, hatte ihn nie zuvor beunruhigt. Wie sie jedoch darauf reagierte …
Es war verführerisch - so unglaublich verlockend - die dunkleren Tatsachen auszulassen oder nur zu streifen, die Details in freundlicheren Farben zu malen, sie aufzuhellen, ihr wahres Wesen zu verschleiern und zu übertünchen. Er zwang sich, diesem Drang zu widerstehen, nichts anderes zu berichten als die ungeschönte Wahrheit.
Zu seiner Überraschung fühlte sich seine Brust eng an, seine Kehle war nicht so frei, wie er es sich gewünscht hätte. An einer Stelle, als er in düsteren, nichts beschönigenden Worten die nackten Fakten seines Verweilens unter den schmierigeren Elementen in den Häfen Nordfrankreichs beschrieb, merkte er, dass er völlig verspannt dasaß, dass er ihre Hand zu fest fasste; er machte eine Pause und zwang sich, seinen Griff zu lockern.
Darauf verstärkte sie den Druck ihrer Finger um seine. Sie setzte sich anders hin, und dann war ihre andere Hand da; sie legte sie auf seinen Handrücken.
»Es muss furchtbar gewesen sein.«
Ruhiges Hinnehmen, stilles Mitgefühl.
Beides umgab ihn wie flüssiges Gold.
Seine Finger fassten wieder ihre Hand, Wärme durchströmte ihn. Nach einem Augenblick fuhr er fort.
»Aber das liegt alles in der Vergangenheit. Zusammen mit den meisten anderen bin ich letztes Jahr aus dem aktiven Dienst ausgeschieden.«
Er schaute sie an, und sie erwiderte seinen Blick.
»Allerdings …«
Sie legte den Kopf schief.
»Als Ruskin erstochen wurde und du den Fund seiner Leiche gemeldet hast …?«
»Genau. Dalziel tauchte wieder in meinem Leben auf.«
Er schnitt eine Grimasse.
»Ich an seiner Stelle hätte genauso gehandelt. In welche Machenschaften auch immer Ruskin verwickelt war, es hatte beinahe sicher mit Verrat zu tun.«
Sie waren einmal um den Park gefahren; vor ihnen tauchten Straßenlaternen die stattlichen Häuser von Mayfair in ihr flackerndes Licht. Er hob die Hand und wies den Kutscher an, sie zur Waverton Street zu bringen. Sobald sie in den moderneren und daher heller beleuchteten Straßen ankamen, sah er sie an und stellte fest, dass sie ihn beobachtete - nicht verurteilend, nicht einmal neugierig, sondern als ob sie ihn endlich klar erkennen konnte. Und was sie sah, war offenbar beinahe eine Erleichterung.
Ihr Blick glitt an ihm vorbei, ihre Lippen wurden weicher und sie lehnte sich zurück.
»Deshalb also hat Whitehall - dieser Dalziel - dich für die Ermittlungen ausgewählt. Weil du über alle Zweifel erhaben bist und bewiesen hast, dass du dem Land treu ergeben bist.«
Niemand hatte ihn je so beschrieben, aber … Er neigte den Kopf.
»Es ist wichtig, dass der, der die Ermittlungen durchführt, zweifelsfrei loyal ist. Denn angesichts der Tatsache, dass Ruskin in einer Regierungsbehörde beschäftigt war, ist es wahrscheinlich, dass der Mann, mit dem er Geschäfte gemacht hat, in irgendeiner Weise mit einer wichtigen Abteilung oder gar der Regierung selbst verbunden ist.«
Waverton Street war nicht mehr weit; Alicia sprach hastig. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Also sollten deine Ermittlungen geheim sein?«
Seine trockene Antwort lautete:
»Das waren sie.«
Sie schaute ihn an.
»Aber jetzt musstest du mich retten und alles preisgeben - es tut mir so leid. Ich hätte nie …«
»Zum Glück hast du.«
Sein Griff
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