Ein verführerischer Schuft
während die Kutsche durch die nächtlichen Straßen rollte und sich durch den starken Verkehr um Piccadilly kämpfte, wich die Kälte allmählich aus ihr. Seine Kraft, die entschiedene und wirkungsvolle Weise, wie er die ganze Sache erledigt hatte, der schlichte Umstand seiner Gegenwart hier neben ihr, drang in ihr Bewusstsein vor, füllte sie aus und beruhigte sie.
Schließlich holte sie tief Luft, sah ihn an.
»Danke. Es war nur …« Sie machte eine vage Handbewegung.
»Der Schreck.«
Er blickte auf die Fassaden der Häuser, an denen sie vorüberfuhren.
»Wir sind gleich in der Waverton Street.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Etwa eine Minute verstrich, dann brach sie es.
»Ich habe Ruskin nicht erstochen.« Sie betrachtete sein Gesicht, als er sie anschaute, aber in der Dunkelheit konnte sie seine Miene nicht lesen. Sie atmete durch.
»Glaubst du mir?«
»Ja.«
Tony sagte das einfach so, ohne Ausschmückungen, ohne Betonung, ließ es für sich sprechen, wartete, bis sie es erkannt hatte. Dann sah er sie an, nahm ihre Hand und begann mit ihren Fingern zu spielen.
»Du hast ja gehört, was ich dem Ermittler gesagt habe, und zuvor Tante Félicité und Lady Osbaldestone. Du hättest Ruskin unmöglich töten können. Ich - wir wussten das seit dem Tag nach seinem Tod.«
Er verschränkte seine Finger mit ihren. Er konnte beinahe hören, wie ihr Verstand arbeitete, die Fragen hören, die sich ihr stellten, spürte, wie sie nach den rechten Worten suchte.
»Ich. Wir. Du hast mir erzählt, dass du mit den Ermittlungen betraut seist, aber bis heute Abend in der Stadtwache habe ich nicht begriffen, was das heißt. Nämlich dass du im Auftrag von Whitehall Ermittlungen anstellst.«
Er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht und wartete auf die nächste Frage, überlegte, wie sie sie wohl formulieren würde.
»Wer bist du?«
Als er nicht gleich darauf reagierte, holte sie tief Luft, richtete sich in seinen Armen auf.
»Du bist nicht irgendein Adeliger, den die Behörden - und noch weniger die Herren in Whitehall - einfach mehr oder weniger zufällig darum bitten, sich eine bestimmte Angelegenheit genauer anzusehen, weil du über einen Leichnam gestolpert bist.« Sie drehte den Kopf und musterte ihn.
»Das bist du nicht, oder?«
Er ließ einen Augenblick verstreichen, dann sah er ihr ins Gesicht.
»Nein, so arbeitet Whitehall nicht.«
Sie sagte weiter nichts, wartete einfach.
Er schaute weg, ging rasch im Geiste seine Möglichkeiten durch. Er konnte nicht von ihr erwarten, dass sie ihn als Ehemann akzeptierte, solange sie nicht wusste, wer er war und was er alles in Wahrheit war. Angeborene Instinkte drängten ihn, darüber weiter zu schweigen, aber er wusste noch zu gut, welche Probleme Jack Hendon sich eingehandelt hatte, als er es versäumt hatte, Kit die ganze Wahrheit zu sagen. Er dachte, er beschützte sie; doch stattdessen hatte er sie dadurch verletzt und beinahe verloren.
Er schaute zu Alicia, dann hob er die Hand und klopfte von innen gegen die Klappe im Dach. Der Kutscher öffnete sie.
»Fahren Sie einmal um den Park.«
Die Tore mussten inzwischen geschlossen sein, aber die Straßen um das Gelände herum waren um diese Zeit sicher nicht mehr so voll.
Die Klappe schloss sich; die Kutsche rollte weiter. Das Licht einer vorbeihuschenden Straßenlampe beleuchtete kurz den Innenraum der Kutsche. Er blickte Alicia an; sie erwiderte den Blick und hob eine Braue. Das Licht verblasste und die Schatten kehrten zurück.
Das passte vielleicht sogar ganz gut.
Er lehnte sich zurück, legte seinen Arm tiefer über ihren Rücken, sodass sie bequemer sitzen konnte, und zog sie an sich. Seine andere Hand schloss er fester um ihre. In dem Dämmerlicht brauchte er den Körperkontakt zu ihr, um ihre Reaktion besser abschätzen zu können.
Ihr einfach alles zu sagen war ein Risiko, aber eines, das er eingehen musste.
»Ich habe deinen Brüdern ja schon gesagt, dass ich Major in einem Garderegiment war, einem Kavallerieregiment.«
Ihre Finger bewegten sich, und er drückte sie sachte.
»Das war ich auch, aber nach den ersten paar Monaten habe ich weder bei der Garde noch in der Kavallerie gedient.«
Sie wandte den Kopf und schaute ihm ins Gesicht, aber er konnte ihre Miene nicht erkennen. Er holte Luft und fuhr fort.
»Da gab es einen Gentleman namens Dalziel, der ein Büro in Whitehall hat …« Er sprach weiter, erzählte ihr, was er sonst niemandem verraten hatte, nicht Félicité, ja
Weitere Kostenlose Bücher