Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
Er beschuldigte sie, jemandes Geliebte zu sein. Aber wessen? Die von Thorold? Oder von Michael Gray?
James ließ sich in seinem Sessel zurückfallen und legte ein Fußgelenk über das andere Knie. »Ich will nur bemerken, dass Gouvernanten und angestellte Gesellschafterinnen einen so heiklen Stand im gesellschaftlichen Gefüge innehaben … Wenn ein Sekretär – oder ein anderes männliches Wesen – sich ihnen gegenüber ungebührlich verhält, was bleibt diesen armen Dingern übrig?«
Mary kochte. »Sie haben wohl ein starkes Interesse an der Machtlosigkeit von Frauen und genaue Vorstellungen, wo sie hingehören und wo nicht.«
Angelica mischte sich plötzlich mit hochroten Wangen ein. »Machen Sie etwa abfällige Bemerkungen über meine Familie, Sir?« Das Zittern in ihrer Stimme ließ vermuten, dass auch sie etwas von den Gerüchten um das ehemalige Zimmermädchen gehört hatte.
Der so angegriffene Mann bedachte die Reaktion, die er hervorgerufen hatte, mit einem amüsierten Lächeln. »Ach herrje, jetzt habe ich Sie wohl versehentlich alle beide beleidigt. Ich bitte um Verzeihung, Miss Thorold.«
Wieder musste Mary den Drang zügeln, ihn zu schlagen.
Angelica sah immer noch verärgert aus.
George mischte sich besorgt ein. »Meine liebe Miss Thorold, mein Bruder hat nur generelle Überlegungen angestellt; er hat doch nicht Sie oder Ihr Haus gemeint.« Er wandte sich drohend an seinen Bruder. »Nicht wahr, James?«
»Ganz recht, George.« James’ Ton war sanft.
Angelica verharrte noch einen Moment in ihrer Entrüstung, doch dann gab sie nach. »Ich nehme an, es ist ein Kompliment, dass Sie meine Intelligenz genügend respektieren, um über derlei Dinge mit mir zu reden.«
»Selbstverständlich, meine Liebe.« James’ Stimme verriet einen Hauch von Amüsement, aber Angelicaschien zu gefallen, dass er sie »meine Liebe« genannt hatte. James richtete seinen düsteren, nachdrücklichen Blick auf Mary. »Miss Quinn, ich hoffe, wir verstehen uns?«
Sie riss die Augen mit gespielter Unschuld auf. »Das nehme ich doch auch an, Mr Easton.«
»Ich bin ja so erleichtert.« Ganz abrupt erhob sich James. »Ich habe mich so gut unterhalten, dass ich fast meinen nächsten Termin vergessen hätte. Danke für den Tee und das entzückende Gespräch.«
George sah ihn erschrocken an. »Was für einen Termin?«
James lächelte. »Nicht nötig, dass du auch so plötzlich aufbrichst, Bruder. Wir sehen uns heute Abend.«
Angelica sah ihn erstaunt an, ihr kleiner rosiger Mund war geöffnet. Es war möglicherweise das erste Mal, dass ein Gentleman ihre Gesellschaft verließ, ehe sie ihn entlassen hatte. »Ach, tja.« Sie blinzelte erneut, dann sammelte sie sich. »Dann guten Tag. Bis zum nächsten Mal?«
»Bis dann. Ich finde selbst hinaus. Guten Tag, Miss Thorold.« Er war schon an der Tür zum Gang, als er sich umdrehte und einen Blick über die Schulter warf. »Und Miss Quinn …«
Sie hob fragend die Augenbrauen.
»Sie werden wohl erleichtert sagen: ›Gut, dass wir ihn los sind!‹«
Sechs
Montag, 10. Mai
D er Brief war an Herrn G. Easton adressiert, aber als James den Poststempel erkannte, riss er ihn dennoch auf. Ein strahlendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er eilte durch den Bürobereich zu dem Privatzimmer seines Bruders.
»Wir haben ihn!«, brüllte er, als er durch die Tür stürzte. »Wir sind dabei!«
George richtete sich erschrocken auf und machte ein finsteres Gesicht. »Verdammt noch mal, James, kannst du dir nicht angewöhnen, anzuklopfen?«
James hielt seinem Bruder den Brief vor die Nase. »Da! Der Eisenbahn-Vertrag. In Indien. Wir haben den Auftrag, in Indien eine Eisenbahnlinie zu bauen. Wir fangen im September mit den Arbeiten an, was bedeutet – mein Gott –, dass du Ende diesen Monats abreisen musst! Oder früher, wenn möglich.« Er fing an, aufgeregt über das Buchen einer Schiffsreise und Chinintabletten zu reden, doch dann hielt er inne. »George? Hörst du überhaupt zu?«
George sah vom Schreibtisch auf. »Hmm?«
»Das ist der fetteste Auftrag, den die Baufirma Easton je an Land gezogen hat, und du fährst nach Indien, dabei siehst du aus, als ob dir gerade jemand dein Akkordeon gestohlen hat. Was ist los mit dir?«
George seufzte aus tiefstem Herzen auf. »Das hat sie auch gewissermaßen.«
»Ich verstehe nicht. Wer ist ›sie‹?«
»Miss Thorold natürlich. Auf dem Fest habe ich ihr erzählt, ich würde musizieren, das schien sie
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