Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
paar Jahren seinen Sohn verloren und er hat eine sentimentale Ader. Es gibt eine kleine Chance, dass er versucht haben könnte, dem Mädchen zu helfen oder vielleicht sogar Kontakt zu ihr zu halten. Er könnte das Kind zwar niemals öffentlich anerkennen, aber das scheint für einige Männer ja kein Hinderungsgrund zu sein.«
»Verstehe.« Er schwieg eine Minute.
»Könnte das die Haltung Ihres Bruders Miss Thorold gegenüber beeinflussen?«
»Nein. George hat ganz und gar den Kopf verloren wegen ihr. Abgesehen davon hat diese alte Geschichte mit der schwangeren Geliebten keine rechtlichen Konsequenzen für uns.« Er fing ihren Blick auf. »Bei allem Respekt gegenüber Ihrer Freundin Gladys natürlich.«
»Natürlich.« Ihre Stimme war eisig.
Er hüstelte verlegen. »Äh – Sie erinnern sich wohl nicht, ob irgendwelche der Unterlagen, die Sie gesehen haben, in Verbindung standen zu –«
»Ihren Interessen? Auf jeden Fall war da nichts, was mit Opium zu tun hatte. Alles, was ich gefunden habe, war rechtlich einwandfrei. In den meisten Fällen sendet Thorold auf seinen Schiffen industriell hergestellte Güter wie Textilien und Stahl nach Indien und auf dem Rückweg haben sie Sachen wie Tee und Reis geladen. Gelegentlich macht ein Schiff noch einmal halt in Amerika oder auf den Westindischen Inseln, aber inzwischen wohl sehr viel seltener.«
»Verstehe.«
»Tun Sie das?« Es war nicht möglich, ihren Ausdruck zu deuten. Ihre Augen – je nach Beleuchtung nussbraun oder grünlich, wie er inzwischen wusste – blickten ihn unbewegt und trotzig an.
Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Sie hatte einen dunklen Fleck – Ruß? Schmutz? – auf der Wange, was aus irgendeinem Grund ganz reizend aussah.
»Wenn dem so ist, was sollte dann neulich der ganze Unsinn, ich sei die Geliebte von Thorold?«
Er hoffte, dass sie in dem spärlichen Licht nicht sah, wie er rot wurde. »Das war nur eine Theorie.«
»Es klang aber eher wie ein Anschuldigung.«
Unter seinem Kragen wurde ihm immer heißer. »Ich entschuldige mich.« Das kam nur zögernd heraus.
Ein amüsiertes Flackern huschte über ihre Augen. »Das tun Sie wohl nicht so oft, was?«
Gegen seinen Willen musste er grinsen. »Nein. Sie gehören zu den Auserwählten.«
»Also, da wir nun so höflich miteinander umgehen, warum bringen Sie mich nicht nach Chelsea?«
Folgsam streckte er den Kopf aus dem Fenster und rief dem Kutscher eine Anweisung zu. »Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte er und zog seine Uhr hervor. »Wir sind schon fast in Battersea und es ist erst kurz nach fünf.«
»Danke.« Ihr Blick war leicht selbstironisch, als sie das sagte.
»Oh, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Miss Quinn«, sagte er grinsend. »Wir müssen das bald wiederholen.«
Sie konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken. »Sobald Ihre Nase geheilt ist vielleicht.«
Er ließ einen Finger über das Nasenbein gleiten. »Das ist gar nicht schlimm. Wo haben Sie nur so zu kämpfen gelernt?«
»Wie zu kämpfen?«
»Wie ein Mann, meinte ich wohl. Die meisten jungen Damen hätten sicher geschrien und mir das Gesicht zu zerkratzen versucht. Oder sie wären vielleicht einfach ohnmächtig geworden.«
»Ich war ein Wildfang.«
»Mit einer Menge Brüdern?« Er konnte es sich direkt vorstellen, ein entschlossenes Mädchen, umgeben von einem Rudel bulliger Jungen.
»So was in der Art. Und jetzt schulden Sie mir noch eine Antwort: Woher wussten Sie, dass ich heute Nacht in dem Lager war?«
Er machte ein selbstgefälliges Gesicht. »Ich habe gesehen, wie Sie am Vormittag um den Speicher geschlichen sind.«
Sie riss die Augen auf. »Heute Morgen? Aber woher wussten Sie, dass ich dort sein würde?«
»Ich, äh, hab einen Tipp bekommen.«
»Von wem?«
»Von einem, der dafür angestellt ist.«
»Sie haben mich beschatten lassen?«
»Tja, war wohl nicht besonders anständig von mir …«
Sie überlegte einen Moment, dann räumte sie ein: »Ich hätte an Ihrer Stelle das Gleiche getan.«
Dem Klang der Droschkenräder nach zu urteilen überquerten sie jetzt die Battersea Brücke. In einer Minute würden sie Cheyne Walk erreichen.
»Hören Sie – ich finde, wir sollten zusammenarbeiten«, sagte er und beugte sich vor.
Sie zog leicht die Brauen zusammen. »Warum?«
»Weil wir auf diese Art schneller vorankommen«, erwiderte er ungeduldig. »Und wir riskieren nicht, uns gegenseitig bei unseren Untersuchungen zu behindern, ganz zu schweigen
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