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Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Titel: Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Y.S. Lee
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falls doch, würden die Bewohner dann keine neugierigen Fragen stellen? Sie hatte auf dieser Seite des Gebäudes ungefähr zwanzig Betten gezählt. Wenn sie die gleiche Anzahl im Nebenhaus annahm, gab es insgesamt ungefähr fünfunddreißig bis fünfundvierzig Bewohner. Sie konnten ja nicht alle hilflose, gebrechliche Trottel sein. Entweder die gestohlenen Waren und Papiere befanden sich nicht hier oder sie wurden in einem gesonderten Teil des Gebäudes aufbewahrt. Vielleicht doch im Keller. Oder im Büro des Heimleiters.
    Sie hatte gerade beschlossen, wieder hinunterzugehen,als sie Schritte im Treppenhaus hörte. Die natürlich heraufkamen. Verdammt.
    »Wer sind Sie? Was machen Sie hier oben?« Es war die vorwurfsvolle Stimme eines älteren Mannes.
    Sie stieß ein albernes kleines Blöken aus. »Oh! Entschuldigen Sie, Sir   … hab nach dem Herrn gesucht, der das Heim hier verwaltet.« Ein rascher Blick zeigte ihr einen mageren Chinesen, mindestens Mitte sechzig, aber noch ganz rüstig. »Sind Sie das, Sir?« Vorsichtshalber machte sie einen artigen Knicks.
    Man hörte ihm sein missbilligendes Stirnrunzeln praktisch an. »Wie sind Sie reingekommen?«
    »D-durch die Küchentür, Sir. Hab nach ’ner Stelle gesucht, wissen Sie?«
    »Das Büro vom Verwalter ist im Erdgeschoss.« Seine Stimme war steif und misstrauisch.
    Mary versuchte es mit Cockney-Charme. »Nichts für ungut, Sir: Bin nur auf der Suche nach Arbeit, wissen Sie? Es gibt ja nicht viele Stellen für ein braves Mädchen in der Gegend hier.« Sie sah auf und versuchte, so naiv-hoffnungsvoll wie möglich auszusehen. »Sind Sie der Heimleiter, Mr   …?«
    Der Mann presste die Lippen aufeinander. »Chen. Ja, der bin ich.«
    »Ach!« Sie tat so, als wolle sie auf ihn zulaufen. Wie sie erwartet hatte, wurde sie von einer scharfen Bewegung seiner Hand zurückgehalten. »Ach, geben Sie mir doch Arbeit, Sir. Ich kann auch richtig zupacken, nur dass ich keine Gelegenheit gehabt hab, wo es meiner Schwester so schlecht gegangen ist und   –«
    »Kommen Sie nach unten, junge Frau.«
    Sie blieb zögernd stehen. Doch dann gehorchte sie einer knappen Geste des Heimleiters und stieg vor ihm die Treppe hinunter. Sie kamen in einen Raum im vorderen Teil des Hauses, der von dem Hauptflur abging. Er war so karg und verblichen wie alles andere in dem Wohnheim, obwohl hier der Versuch gemacht worden war, ihn ein wenig wohnlich zu gestalten. Die Wände waren mit einem dunklen Farnmuster tapeziert, das sich an einigen Stellen wegen der Feuchtigkeit löste. Die Farbe der Samtvorhänge, die aufgezogen waren und helles Tageslicht hereinließen, passte weder zum Grün der Tapete noch zu dem abgewetzten Teppich. Zentraler Blickfang des Raumes war ein knallbuntes Ölporträt eines beleibten Kaufmanns mit zynischem Blick und unwahrscheinlich rosigen Wangen. Auf dem breiten Goldrahmen war ein Namensschild angebracht:
Wm Bufferton (1801   –   1852) Wohlwollender und treuer Diener und wahrhaftiger Mann Gottes
. Mary verzog angewidert den Mund und wandte sich ab, um sich dem scharfen Blick des Heimleiters zu stellen.
    Er deutete auf einen wackeligen Holzstuhl. Sie setzte sich.
    Er blieb stehen. »Sie sagen, Sie suchen nach Arbeit?«
    »J-ja, Sir.«
    »Was für Arbeit?«
    »Irgendwas, Sir.« Sie verbarg die Hände in den Falten ihres Rockes. »Mädchen für alles, Nähen, alles, was so im Haus anfällt.«
    Sein Blick wanderte zu ihrem Schoß. »Ah ja.«
    Es folgte ein langes Schweigen, und Mary wagte nicht, aufzusehen. Sie suchte ihr Blickfeld nach Hinweisen ab, aber von Mr Chen kam weder ein verräterisches Geräusch noch eine Bewegung. Es war absolut still im Raum. Sie zählte bis zwanzig, dann bis vierzig und schließlich bis sechzig. Eine Uhr im Nebenzimmer schlug die halbe Stunde.
    Als er schließlich wieder sprach, war seine Stimme kühl. »Ich glaube Ihnen nicht.« Instinktiv holte Mary Luft, um zu protestieren, doch er schüttelte sanft den Kopf, und sie schloss den Mund wieder. »Sie suchen nicht nach Arbeit«, fuhr er etwas milder fort. »Ihre Hände sind zu weich; das sind nicht die Hände einer Dienstmagd. Sie suchen etwas anderes.«
    Ihr Magen drehte sich um. Was war nur los mit ihr? Warum fiel ihr keine glaubwürdige Ausrede ein? Gab er möglicherweise sogar zu, dass die geschmuggelte Ware hier war? Wie konnte sie entkommen und die Agentur informieren? Bestimmt würde James Alarm schlagen, wenn sie nicht zurückkehrte. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf jagten,

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