Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
einem Blick auf diese traurige Fassade war Mary plötzlich froh, dass nicht sie für die Ablenkung sorgen musste. Das Letzte, was sie wollte, war, hier gesehen zu werden.
Sie schlich sich in die Gasse, die hinter den Häusern entlanglief. Sie war voll mit dem üblichen Unrat – Schrott, Müll, Asche – und stank stark nach vergammelndem Abfall. Der Hintereingang zu dem Wohnheim war nicht besser oder schlechter als die anderen in der Gasse. Der Farbanstrich war gesprungen und blätterte in Fetzen ab und das Fenster neben der Tür war zugenagelt. Aber die Türschwelle war kürzlich gefegt worden und der Ascheneimer stand ordentlich daneben. Seltsame Mischung aus Reinlichkeit und Verfall.
Sie horchte einen Moment an der Tür. Nichts. Irgendwo tief im Inneren des Hauses konnte sie es rumoren hören – das Klingeln einer Glocke, Schritte, das quietschende Öffnen einer Tür. Aber nichts in ihrer Nähe. Sie war nicht überrascht, dass sich der Türknopf ohne Weiteres drehen ließ.
Wie sie es erwartet hatte, trat sie in eine düstere Spülküche. Die Wände waren aus unverputzten Ziegeln, der Boden nackter Stein. Sie lauschte wieder aufmerksam und hörte leises Gemurmel von Männern. Schritte – zwei Personen? Und dann verstummten die Stimmen hinter einer Tür, die geschlossen wurde. Im hinteren Teil des Hauses rührte sich immer noch nichts.
Wenn sich hier gestohlene Güter oder Unterlagen befanden, wo würden sie versteckt sein? In den obersten Winkeln des Hauses wahrscheinlich. Der Keller war bestimmt zu feucht und voller Ungeziefer. Und wenn die Unterlagen im Zimmer des Heimleiters waren … darüber würde sie sich später Gedanken machen. Sie glitt durch die Hauptküche und gelangte in den zentralen Flur. Vorsichtig sah sie sich um. Das Haus war schwach erleuchtet, und wenn man die Wetterlage bedachte, noch überraschend kühl. In den Ecken hatten sich kleine Schimmelflecken gebildet und sie nahm einen scharfen, warmen Duft wahr: asiatisches Essen, asiatische Arzneien und Gewürze … der Ferne Osten zu einem häuslichen Geruch verdichtet. Ganz zwangsläufig und unvermittelt wurde sie plötzlich an Poplar erinnert. Ihr Zuhause.
Es gab keinen Läufer auf der Treppe nach oben. Sie trat vorsichtig auf und versuchte, keinen Lärm zu machen und ihre zitternden Gliedmaßen unter Kontrolle zu bringen. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock befanden sich drei Türen. Am Ende der Treppe war eine säuberliche Öffnung in die Wand gehauen, die den Flur mit dem Nebenhaus verband, das wahrscheinlich spiegelbildlich zu diesem gebaut war.
Wo waren die ganzen betagten Seeleute? Wurden sie tagsüber nach draußen geschickt? Sie kaute auf der Unterlippe. Wenn sie den Versuch unternahm, eines der Zimmer zu betreten, platzte sie vielleicht in eine Runde unschuldiger alter Männer. Oder sie entdeckte Kisten mit Schmuggelware. Oder sie stieß womöglich auf Mr Thorold selbst, der seine Goldschätze zählte …
Sie musste handeln, ehe sie völlig durchdrehte. Sie wählte das nächstgelegene Zimmer. Durch die dünne Holztür war nichts zu hören, und als sie den Türknopf drehte, quietschten die Angeln nur ganz leise. Ein kleines Fenster ließ etwas graues Tageslicht einfallen – genug, dass sie eine doppelte Reihe Pritschen sehen konnte, die sehr eng nebeneinanderstanden. Sie waren schmal und niedrig, und auf jeder lag ordentlich zusammengefaltet eine dünne Decke auf einer klumpigen Strohmatratze. Keine Kopfkissen. Eine kleine offene Kiste stand an jedem Fußende. Für persönliche Habe. Der Boden bestand aus einfachen Holzdielen, im Lauf der Jahre glatt gescheuert undsauber gefegt. Der Raum roch nach Talgkerzen, Kernseife und Verfall.
Mit einem Schaudern schloss sie die Tür und betrat das nächste Zimmer. Es ging zur Seite des Hauses und hatte kein Fenster. Mithilfe einer Kerze stellte sie fest, dass es fast das Gleiche enthielt wie das vorige, nur dass hier noch mehr Betten standen, die so nahe aneinandergeschoben waren, dass sie sich fast berührten. Der Raum war etwas weniger sauber als der andere, es roch stärker nach alten Männern und ein wenig nach Opium.
Als das dritte und größte Zimmer wieder die gleichen armseligen Sachen enthielt, begann Mary sich zu fragen, was sie hier eigentlich tat, indem sie in die Privatsphäre dieser anständigen, verarmten alten Männer eindrang. In diesem schäbigen beengten Wohnheim war kein Platz für die Dinge, nach denen sie und James suchten … und
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