Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
ist mein Blut auch nicht rein. Ich habe keine Familie, ich gehöre nirgendwo hin!«
Er sah sie lange an. »Das verstehe ich. Auch wenn ich hoffe, dass du das eines Tages anders sehen wirst.«
Mary sah ihn verwirrt an. »Aber wie …?«
Er ging nicht darauf ein. »Um also eine Anstellung zu bekommen, hast du die Verbindungen zu Poplar und Limehouse abgebrochen und angefangen, dich als Weiße auszugeben.«
Sie nickte langsam.
»Und die Leute glauben das?« Seine Stimme klang leicht skeptisch.
»Sie sind meistens zufrieden mit der Erklärung, dass meine Mutter Irin war. Andere glauben, dass ich französisches oder spanisches Blut habe oder sonst eine südliche Abstammung.« Ihr Mund verzog sich. »Und wenn man gegenüber den Europäern vom Kontinent auch Vorbehalte hat, sind sie doch immer noch besser angesehen als … die Wahrheit.«
Das Wort »Wahrheit« hing schwer und drückend in der Luft. Als Mary klein war, hatte jemand – ihre Mutter? – ihr beizubringen versucht, dass »die Wahrheit«sie »befreien« würde. Sie verstand nicht, wie das möglich sein sollte. Das war doch nur so eine Binsenweisheit für Naive – oder für die Privilegierten.
Behutsam räusperte sich Mr Chen. »Aber wir sind abgeschweift. Ich erinnere mich an deinen Vater, weil er ein ungewöhnlich hochgewachsener und gut aussehender Bursche war; jeder kannte ihn, wenn auch vielleicht nicht persönlich.«
Sie zwang sich, wieder an ihre ursprüngliche Frage zu denken: woher Mr Chen wusste, wer sie war. Doch, seine Erklärung klang logisch.
»Ich bin ihm nur wenige Male begegnet, und dich habe ich auch einmal gesehen, mit drei oder vier Jahren.« Er lächelte leicht. »Es ist lange her, aber du bist eindeutig Mary Lang.«
Sie begriff nur ganz langsam. Ihre Aufnahmefähigkeit schien schwerfällig, als würde sie nur mit einem Bruchteil ihrer üblichen Geschwindigkeit arbeiten. Aber alles klang ganz logisch. Zu logisch?
Ein spontaner Gedanke schoss ihr durch den Sinn. »Wenn das so ist«, sagte sie und ihre Stimme war plötzlich hoch und scharf, »wenn Sie sich so um die asiatische Gemeinschaft sorgen, warum haben Sie uns nicht geholfen, als er für tot erklärt wurde? Warum haben Sie meine Mutter im Stich gelassen, verhungern lassen, sie gezwungen –« Sie bebte jetzt vor Zorn.
Mr Chen sah sie bekümmert an. »Das war eine Tragödie.«
»Das kann man wohl sagen! Aber es hätte nicht so kommen müssen!«
Er seufzte und rieb sich die Nasenwurzel. »Das ist richtig.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Nachdem die Nachricht vom Tod deines Vaters kam, hat eine Dame von einer benachbarten Kirchengemeinde deine Mutter aufgesucht. Sie suchte nach einem Hausmädchen und wollte dich kaufen.
Deine Mutter hat äußerst verärgert reagiert. Sie lehnte das Angebot ab und forderte die Dame auf, ihr Haus sofort zu verlassen. Die Dame war sehr gekränkt. Sie entschied daraufhin – auf die Ablehnung ihres Angebots, das sie als sehr großzügig ansah –, dass deine Mutter überhaupt keine Hilfe bekommen sollte.«
Er schien auf alles eine Antwort zu haben. Und dennoch … »Und Sie?«, fragte Mary trotzig. »Sie wussten über alles Bescheid, haben sich aber auch geweigert, uns zu helfen?«
Mr Chen machte ein beschämtes Gesicht. »Ich hatte Angst. Die Gemeinde, zu der die Dame gehört, hilft uns, dieses Wohnheim zu betreiben. Ich hatte Angst, dass sie ihre Zuschüsse streichen würden, wenn wir geholfen hätten.«
Seine Scham schien aufrichtig zu sein. Nach und nach drangen seine Worte zu ihr durch, und Mary merkte, dass sie ihm glaubte. Langsam setzte sie sich wieder. Ihre Hände taten weh, so fest hatte sie die Stuhllehne umklammert. »Sie haben meinen Vater also gekannt.«
Er erhob sich und ging auf einen Aktenschrank zu. »Ich habe seit einigen Jahren eine Akte über ›vermisste‹ Laskaren – Männer, die auf Überfahrten verschollen sind. Segeln ist zwar eine gefährliche Angelegenheit, aber es gibt einige ungeklärte Fälle, bei denen speziell ausländische Seeleute verschwunden sind. Um diese Fälle ranken sich einige Gerüchte. Die Dockarbeiter reden gerne, verstehst du? Die asiatischen Matrosen, die verschollen sind, verbindet alle etwas. So viel ich weiß, gehörte dein Vater zu dieser Gruppe.
Aber da war noch etwas anderes«, fuhr Mr Chen fort. »Ehe er 1848 in See stach, suchte mich dein Vater auf. Er hatte das ungute Gefühl, von jener speziellen Reise möglicherweise nicht zurückzukommen,
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