Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
wurde sie von der nächsten Bemerkung des Heimleiters total überrumpelt.
Seine Frage war ganz einfach: »Wer sind Ihre Leute?«
Aber er fragte in Mandarin.
Mary starrte ihn einen Moment an und wurde rot.
Der Heimleiter lächelte etwas über ihre Bestürzung und versuchte es auf Kantonesisch. »Sie können IhreSprache gar nicht?« Er zuckte die Schultern und wechselte wieder zu Englisch. »Wie ist der Name Ihres Vaters?«
Sie schluckte heftig. Genau davor hatte sie Angst gehabt, als sie heute in diese Gegend gekommen war. Es war genau das, woran sie nicht denken wollte.
Einfach so hatte er ihr Geheimnis gelüftet.
Fünfzehn
K ein Grund, Angst zu bekommen,
Ah Mei
.« Sein Gebrauch der Höflichkeitsanrede überraschte und rührte sie. Sie war nicht mehr mit »kleine Schwester« angeredet worden, seit sie ein Kind war. »Viele junge Leute kommen her und suchen nach ihren Angehörigen.«
Sie holte tief Luft und ihr war plötzlich ganz schwindelig. Ihre Handflächen und Achselhöhlen wurden feucht vor Schweiß, was nichts mit dem Wetter zu tun hatte. »Es tut mir leid, dass ich Sie angelogen habe,
Ah Gor
.« »Älterer Bruder« – ein Ausdruck der Ehrfurcht – fiel ihr ohne Überlegen und ganz mühelos ein. Sie wusste nicht, dass er in ihr überlebt hatte.
»Warum hast du gelogen?«
»Ich habe – Angst gehabt.« So weit stimmte das. »Ich weiß, ich hätte nicht nach oben gehen dürfen.« Stimmte auch. Obwohl sie sich schämte, dass sie erwischt worden war – dass sie erkannt worden war –, fühlte sich die Wahrheit gut an.
»Du suchst nach etwas. Nach einer Auskunft.«
Sie nickte vorsichtig.
Er schwieg und betrachtete sie. »Du bist ein Mischling.«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr ganz heiß in der Kehle wurde und ihr die Röte in die Wangen stieg. »Meine Mutter war Irin.«
»Und dein Vater ein chinesischer Matrose.«
Das war keine Frage. Unterdrückte Panik breitete sich in ihrer Brust aus, erreichte den Magen, ihre plötzlich zitternden Gliedmaßen. Ihr Puls ging zu schnell und war zu laut – er dröhnte ihr in den Ohren und erstickte alle anderen Geräusche. Sie hatte seit Jahren nicht an ihre Eltern gedacht. Zumindest nicht unter diesem Aspekt … dem ihrer eigenen Herkunft.
Mr Chen beobachtete sie noch immer mit wachsamem Blick. Er wartete auf ihre Antwort. War es zu spät, um zu fliehen? Er war alt und sie schnell – aber auch feige, wenn sie jetzt davonrannte. Mal wieder.
Mary reckte das Kinn. »Ja.« Scham, Erleichterung, ein seltsames Gefühl von Trotz und Schmach durchströmte ihren Körper. Irgendwie war es befreiend, ihr Geheimnis zu teilen – ihre wahre Herkunft zuzugeben –, und zwar zum ersten Mal, seit ihre Eltern tot waren. Nicht einmal Anne Treleaven und Felicity Frame wussten das. Und doch war dieses Eingeständnis erschreckend. Sogar demütigend.
»Dein Vater ist tot?«
Es tat noch immer weh, daran zu denken. »Auf See gestorben.«
Er machte eine kleine, auffordernde Bewegung. »Erzähl.«
Es war eine einfache Bitte, doch plötzlich fiel Mary nichts mehr ein. Jahrelang hatte sie sich nicht erlaubt, an ihren Vater zu denken. Jetzt, als sie in Mr Chens kluge Augen blickte, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte.
»Er war ein guter Vater?«, fragte er sanft.
Sie nickte.
»Du warst noch ziemlich jung, als er gestorben ist?«
»Acht Jahre. Vielleicht auch erst sieben.«
»Also erinnerst du dich an ihn.«
Mary schloss die Augen und das Gesicht ihres Vaters tauchte vor ihr auf. Ein gut aussehender Mann mit einem schüchternen Lächeln. »Er war lieb«, sagte sie. »Wir sind oft am Fluss spazieren gegangen und er hat mir von seiner Jugend in Kanton erzählt.« Sie lächelte. »Die Leute in Poplar haben ihn den Prinz genannt, weil er ein bisschen wie Prinz Albert ausgesehen hat.«
Mr Chen blinzelte und beugte sich etwas vor. »Weißt du seinen chinesischen Namen?«
Mary runzelte die Stirn. »Es hat ihn nie jemand bei seinem Namen genannt. Unser Familienname war – ist – Lang, aber an seine Vornamen kann ich mich nicht erinnern.«
Mr Chen atmete etwas rascher. »Lass dir Zeit«, sagte er mit Nachdruck.
Mary war verwirrt. »Aber Sie können doch bestimmt nichts von ihm wissen … oder?«
»Kommt drauf an, wer er ist.«
»Aber er ist auf See gestorben! Sein Schiff ist untergegangen, und jemand von der Reederei ist vorbeigekommen … hat uns ein bisschen Geld gegeben – seine Heuer.« Ihre Hände zitterten und ihr
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