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Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Titel: Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Y.S. Lee
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keine Wahlmöglichkeit zu haben.« Sie konnte Angelicas Reaktion nicht abschätzen. »Das können nur Sie wissen, aber ich wollte nicht gehen, ohne Ihnen das gesagt zu haben.« Und das stimmte. Während der letzten halben Stunde war aus Angelicas dienstbeflissener Gesellschafterin etwas wie eine besorgte Gefährtin geworden. In Angelicas Elend   – genau wie in dem von Cass   – sah Mary ihre eigene Geschichte.
    »Ich gehe jetzt und lasse Sie darüber nachdenken«, schloss sie. »Brauchen Sie noch etwas?«
    Angelica war schon tief in Gedanken. »Hm? Ach so   – nein. Aber Mary?«
    Mary blieb auf der Schwelle stehen. »Ja?«
    »Nochmals vielen Dank.«

Zweiundzwanzig
    D a an diesem Morgen keiner Marys Gesellschaft anforderte, ließ sie rasch wissen, dass sie spazieren gehen wolle, und sie nahm eine Pferdedroschke nach St. John’s Wood. Welche Ironie, dass sie alles so vermasselt hatte, und nun nur noch in die Sicherheit der Agentur zurückkehren konnte. Das Messingschild in der Acacia Road, auf dem MISS SCRIMSHAWS MÄDCHENINSTITUT stand, erschien ihr fast unerträglich tröstlich. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor, trat ein und wappnete sich gegen das Schlimmste. Sie brauchte dringend Rat, und wenn dieser sie auch nicht schonen und unfreundlich ausfallen würde, dann musste es so sein.
    Anne Treleavens Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss. Es war überraschend schlicht, sowohl von der Größe als auch von der Einrichtung: Hier gab es keine ausladenden Mahagonitische, verblichene Ölgemälde oder Kristallkaraffen. Stattdessen war der Raum so spartanisch und adrett wie die Frau selbst. Nur einige Topfpflanzen milderten diesen Eindruck.Die Tür stand ein wenig offen. Als Mary leicht anklopfte, sah Anne Treleaven sofort auf. Sie zuckte kaum mit den Lidern, als sie Mary erblickte, aber dieses winzige Zucken bedeutete für sie bereits ein außergewöhnliches Zuschaustellen ihrer Bewegtheit. »Hallo, Mary.«
    Zu ihrem eigenen Schrecken musste Mary Tränen fortblinzeln   – mal wieder. Erst im Laskarenheim, dann fast vor James und jetzt   … »Es tut mir leid, dass ich so hereinplatze   – ich wusste mir sonst keinen Rat   – ich habe alles so verpfuscht   – ich weiß, dass morgen der letzte Tag ist   …«
    Anne Treleaven schloss die Tür und umarmte sie fest. Für eine so hagere Frau war sie ziemlich kräftig. »Ist ja gut, du musst jetzt nichts sagen.«
    Mary wusste nicht genau, warum sie weinte: weil sie als angehende Spionin versagt hatte; weil sie Anne enttäuscht hatte; weil sie James angelogen hatte; weil sie Cass nicht hatte umstimmen können; oder vielleicht sogar wegen Angelica, die selbst so leicht weinte. Nachdem sie den Tränen erst mal freien Lauf gelassen hatte, dauerte es eine Weile, ehe sie versiegten. Schließlich, als sie nachließen und Mary nur noch schluchzte, zog Anne Treleaven ein Taschentuch hervor und brachte ein Glas Brandy. »Trink das.«
    Mary setzte sich und trank. Sie wischte sich das Gesicht ab, schnäuzte sich und versuchte ein Lächeln. »Tut mir leid.«
    »Du musst dich nicht entschuldigen, weil du geweint hast. Erzähl lieber mal, wie es dir ergangen ist.«
    Mary berichtete schlüssig und präzise und ließ nichts aus   – abgesehen natürlich von ihrem privaten Gespräch mit Mr Chen. Obwohl sie versucht war, Anne Treleaven von ihrem Vater zu erzählen, war die Sache doch noch zu frisch. Zu unverarbeitet. Und ein bisschen fragte sie sich auch, ob es ratsam war   … Unbewusst tastete sie nach dem Jadeanhänger, der unter ihrem Kleid verborgen war.
    Würden Anne Treleaven und Felicity Frame sie geringschätzen, wenn sie die Wahrheit erfuhren? Würden sie reagieren wie so viele andere englische Frauen und Männer, die sich etwas darauf einbildeten, gerecht und aufgeschlossen zu sein, sie insgeheim jedoch fürchteten oder verachteten? Sie hatte alles Mögliche in ihrer Kindheit anhören müssen. Obwohl die abfälligen Worte hässlich waren, ging das Problem doch darüber hinaus: Sie hätte es nicht ertragen, so etwas von Anne Treleaven und Felicity Frame zu hören.
    Denn auch wenn ihre Vernunft ihr sagte, dass Anne Treleaven und Felicity Frame sie niemals mit solchen Worten beleidigen würden, schreckte sie weiterhin vor der Wahrheit zurück. Wenn sie ihnen davon erzählte   – selbst wenn sie von ihnen nicht verachtet wurde   –, dann wäre sie nicht mehr einfach »Mary Quinn«. Sie würde auf ewig zu dem Mischling werden, der Chinesin, der Andersgearteten. Weder

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