Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
so verschreckt hat. Sie hat mir bis zu einem gewissen Grad getraut, bis ich erwähnt habe, dass sie zur Schule gehen könnte.«
Anne Treleaven seufzte. »Manchen Mädchen ist diese Vorstellung einfach verhasst. Für sie sieht das wie ein Gefängnis aus.«
»Das Leben als Küchensklave ist besser?« Mary konnte nicht verbergen, wie ungehalten sie war.
»Das scheint sie zu glauben.« Anne Treleaven schwieg, dann beugte sie sich erneut vor. »Wir müssen zu dem Fall Thorold zurückkommen. Unsere Agentin hat ihre Untersuchung gestern Abend beendet und die entscheidenden Unterlagen gefunden: Die Schiffsladung wird morgen eintreffen. Wir warten jetzt auf die Bestätigung von Scotland Yard, dass sie die Beweisstücke beschlagnahmen werden.«
»Ich soll den Haushalt bis dahin im Auge behalten?«
»Ja. Die heimliche Heirat wird wahrscheinlich bei dem Durcheinander, das die Festnahme begleitet, auffliegen. Damit kannst du dann deine Stellung ganz natürlich aufgeben.«
Mary nickte und erhob sich. »Miss Treleaven …«
Anne Treleaven schüttelte den Kopf. »Weder Dank noch Entschuldigungen.«
Mary zerbrach sich den Kopf nach einer geeigneten Bemerkung, die weder das eine noch das andere beinhaltete. »Wünschen Sie mir Glück für den letzten Tag?«, fragte sie mit leicht bebender Stimme.
Mit einem Lächeln wurde Anne Treleavens Ausdruck weicher. »Wenn du einen kühlen Kopf bewahrst, hast du das nicht nötig.«
Dreiundzwanzig
J ames’ Pläne für einen faulen Sonntagnachmittag waren von Anfang an ein Reinfall. Er war Samstagnacht lange im Büro geblieben, um die Arbeit zu erledigen, die er vernachlässigt hatte, weil er lieber mit dieser Frau durch London gefahren war. Er hätte es wirklich besser wissen sollen: Jede Person, die man beim Herumschnüffeln in einem Schrank kennenlernte, musste doch Ärger bedeuten. Das traf doppelt – nein dreimal – so viel auf eine Göre zu, die sich als Dame ausgab, deren Benehmen sie aber mit jeder Bewegung verriet. Die kleine Gaunerin war eine gewiefte Ränkeschmiedin. Er und George konnten von Glück sagen, die Thorolds und ihr Umfeld los zu sein. Wobei ihm George allerdings nicht zustimmen würde.
Gerade als es James gelang, sich mit einem Buch abzulenken, brachte die Haushälterin ihm eine Nachricht von Alfred Quigley. Es war nicht die Schuld des Jungen: Er hatte keine Ahnung, dass der »Fall« in sich zusammengefallen war. Aber es erinnerte ihn erneutunangenehm daran, wie viel Zeit und Energie er die letzten vierzehn Tage verschwendet hatte. James knüllte die Notiz in die Tasche und fing an, sich stattdessen über Quigley Gedanken zu machen.
Er sollte dem Knaben eine andere Arbeit suchen. Ein kluges Kind wie er war zu gut für solch kleine Botendienste – aber in seinem Alter war es wohl das Einzige, womit er etwas Geld verdienen konnte, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen. Konnte ihre Firma den Jungen anheuern, als Hilfslehrling sozusagen? Oder vielleicht sollte man ihm eine anständige Schule finanzieren … Er brauchte mehr Wissen, wenn er etwas Richtiges aus seinen Talenten machen wollte. Wie auch immer, der Junge war eine neue Verantwortung, um die er sich dank dieser verdammten Thorolds kümmern musste.
So ein Gespräch mit sich selbst war ziemlich aufreibend, und er war fast erleichtert, als er hörte, wie die Tür zur Bibliothek aufging. »Was ist los, Mrs Lemmon?«
»Verzeihung, Mr Easton. Da ist ein Polizist, der mit Ihnen oder Mr George sprechen will.«
»Hat er gesagt, worum es geht?«
»Mir gegenüber wollte er nichts sagen, Sir. Hat aber gemeint, dass es dringend ist.«
Und das an einem Sonntag. »Na gut.« James erhob sich. »Wo haben Sie ihn hingeführt?«
Constable Thomas Huggins fuhr spielerisch mit dem Finger über den geschnitzten Rahmen eines Bildes im Frühstückszimmer. Er war jung und hattebesorgte, weit auseinanderstehende Augen. Schuldbewusst drehte er sich um, als James eintrat. »Mr Easton?«
»Ja.« James setzte sich und forderte den Mann auf, es ebenfalls zu tun.
»Tut mir sehr leid, Sie am Sonntag stören zu müssen, Sir.« Huggins blieb stehen. Verlegen hielt er seine Mütze in der Hand. »Eine ziemlich unerfreuliche Nachricht, fürchte ich.«
»Die mich betrifft?«
»So hat es den Anschein, Sir.«
James wartete mit versteinertem Gesicht.
»Auf einer von Ihren Baustellen ist eine Leiche entdeckt worden, Sir.«
Eine Leiche. James war sich plötzlich ganz sicher. Er sah die schlanke zusammengesunkene
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