Ein verruchter Lord
mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem staubigen Boden nieder und schlang die Arme um die Knie.
Gefangen. Weggesperrt. Eingekerkert.
Wieder einmal.
Sie bemühte sich, ihre Wut und ihre Empörung, ihren gerechten Zorn am Leben zu halten, damit die Panik, die in ihr aufstieg, nicht die Oberhand gewann. Vier Wände. Ein Fenster. Eine Tür, die sie nicht öffnen konnte. Das alles war schrecklich, ekelerregend und vertraut.
Mädchen aus gutem Haus sollten nichts über Kerker wissen. Und konnten sich bestimmt nicht vorstellen, dass der einzige Kontakt zur Außenwelt darin bestand, dreimal am Tag ein Essenstablett gebracht zu bekommen. Mädchen aus gutem Haus sollten vor allem nicht plötzlich schwanger werden.
Bitte, Mama, sperr mich nicht ein! Papa, bitte, bitte, lass mich raus! Es tut mir leid! Es tut mir so leid!
Es war nicht so sehr die Schwangerschaft selbst gewesen, die die Eltern dermaßen erzürnt hatte, sondern vielmehr ihre Weigerung, den Verursacher dieser Bredouille zu nennen. Sie hatte das Geheimnis bewahrt und auf Jack gewartet in dem festen Glauben, dass er zu ihr stehen würde.
Dann vergingen die Monate, ohne dass er kam. Monate, in denen sie über Fluchtmöglichkeiten nachdachte, um sie sogleich wieder zu verwerfen. Wie sollte sie es schaffen, sich mit dickem Bauch drei Stockwerke an Efeuranken nach unten zu hangeln? Prüfend schaute sie zu dem großen Fenster der Dachkammer, in der Jack sie eingesperrt hatte.
Jetzt war sie nicht hilflos und schwanger.
Leider ging es hier sehr tief nach unten. In Gedanken zählte sie die Stockwerke, die sie in ihrer Hast hinaufgestürmt war. Das Erdgeschoss, ein paar Treppenabsätze, der Aufgang zum Dachboden. Fünf vermutlich, sie wusste es nicht genau. Der Sims unterhalb des Fensters war schrecklich schmal, nur wenig breiter als ihre Hand und von feuchtem Ruß und Vogelkot ganz rutschig. Vielleicht lieber nicht.
Sie schüttelte den Kopf und spähte zur Straße hinunter. Karren und ein paar Droschken fuhren vorbei, doch niemand würde sie hören, denn das Knarren der Räder und das Klappern der Hufe übertönte bestimmt alle anderen Geräusche. Es sei denn, die Straße wäre einmal leer.
Sie wartete auf einen solch günstigen Moment und konzentrierte sich auf einen jungen Mann, der mit einem Sack über der Schulter vor einem der Geschäfte Waren ablud. Ihr lautes Rufen ließ ihn schließlich aufblicken, bloß deutete er die Situation völlig falsch. Er schob seine Kappe in den Nacken, lächelte ihr zu und beantwortete ihr heftiges Winken, indem er ihr eine Kusshand zuwarf. Eingebildeter Kerl! Der glaubte tatsächlich, sie wollte mit ihm flirten!
Es hatte keinen Sinn. Die Straße war zu belebt und das Fenster zu weit oben. Es lag in der Natur der Sache, dass die Menschen selten nach oben schauten. Nach einem letzten zögerlichen Blick auf den Sims zog sie sich in den Raum zurück und schloss das Fenster, um die abendliche Kühle fernzuhalten.
Rachegedanken überfielen sie und fachten für eine Weile ihre Wut neu an. Sie presste die Fingerspitzen fest gegen ihre Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Die Erinnerungen hingegen ließen sich nicht so leicht zurückdrängen.
Jack. Gut aussehend und schneidig, immer fröhlich. Er war Amy sofort verfallen wie alle jungen Männer, die ihr begegneten. Im Gegensatz zu den anderen hatte er jedoch die kleine Schwester nicht ignoriert – wenngleich sich seine Aufmerksamkeit mehr oder weniger darauf beschränkte, ein wenig mit ihr herumzualbern und sie aufzuziehen. Ob nun wegen ihrer Kratzbürstigkeit oder ihrer Vorliebe fürs Lesen.
» Mauerblümchen « hatten Amys sonstige Verehrer sie genannt, und die Schwester konnte sich köstlich darüber amüsieren und riss einen Witz nach dem anderen auf Laurels Kosten. Einer gemeiner als der andere. Jacks Spitzname für sie, » Bramble « , war zumindest liebevoll gemeint.
Sie war ihm zum ersten Mal begegnet, als sie die Nase gerade gestrichen voll hatte von Amys dämlichen Verehrern, die sich im Salon über sie amüsierten. Sie musste an diesem Tag in Abwesenheit der Mutter die Anstandsdame spielen, obwohl sie gerade erst sechzehn war, zwei Jahre jünger also als die Schwester. Hauptsache, der Schein war gewahrt, und es ging schicklich zu.
» Die Schicklichkeit kann mich mal « , murmelte Laurel vor sich hin, als sie den Salon verließ. » Dandys! Lutscher sollte man sie nennen bei der ganzen Zuckerwatte, die sie im Kopf haben. «
Ein überraschtes, kurzes Lachen
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