Ein verruchter Lord
Seinetwegen war Melody auf die Straße und vor die Kutsche gerannt – sie hätten ihr besser zuhören sollen. Natürlich war der Junge kein Fremder gewesen.
Die alte Frau schloss die Augen und dämmerte weg, wobei sie unruhig mit ihren knotigen Fingern an ihrer Decke zupfte. Leise entfernte Jack sich von ihrem Bett und machte sich auf die Suche nach einer Schwester, die die Kranken in diesem Saal versorgte. Colin und Aidan fanden ihn, als er Münzen in die Hand der Nonne zählte.
» Falls sie irgendetwas braucht, schicken Sie mir einfach die Rechnung zum Brown’s Club. Ich werde für alles aufkommen, solange sie … «
Die Nonne schloss die Finger um die Münzen und ließ sie rasch unter ihrem Habit verschwinden. » Sie hat nicht mehr lange, die Arme. «
Sobald sie aus dem Hospiz traten, überfielen ihn Aidan und Colin mit Fragen. » Was sollte das grade da drinnen? Warum wolltest du uns nicht dabeihaben? «
Jack ging einfach weiter. Selbst die kleinste Erklärung würde zu größten Komplikationen führen. Aidan legte eine Hand auf seinen Arm. » Jack, ich glaube, du solltest uns in diese Sache einweihen … Was auch immer es ist. Wir können dir helfen. «
Abrupt blieb er stehen, um seine Freunde anzustarren.
Helfen? Ihr könnt mir höchstens helfen, indem ihr die Frau, deren Leben ich ruiniert habe, davon überzeugt, dass ich die Antwort auf all ihre Gebete bin?
Und mir einen Rat gebt, wie ich sie dazu bringen kann, mich wieder zu lieben?
Oder mich, wenn alle Stricke reißen, dabei unterstützt, zumindest meine Tochter nicht zu verlieren.
Würdet ihr das tun?
Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. » Ich … « Es hatte keinen Sinn. Sie würden ihn niemals verstehen. » Bald. Ich werde euch bald alles erklären. «
Sobald ich herausgefunden habe, wie ich bekommen kann, was ich will, ohne das zu verlieren, was ich habe.
Wilberforce stand an der Tür des Salons und blickte nachdenklich in die Ferne.
Lord Bartles und Sir James saßen wie üblich beim Kamin am Schachbrett. Der junge Mister Evan war bei ihnen und lernte eine weitere Strategie, um sein Können zu verbessern. Lord Aldrich versteckte sein Gesicht hinter seiner Zeitung und hoffte offenbar, niemand möge bemerken, dass er sich eine weitere Auszeit von seinem Leben als verheirateter Mann gönnte. Einige von Wilberforces älteren Schutzbefohlenen schliefen selig in ihren Sesseln und schlugen so die Zeit bis zum Abendessen tot.
Lady Prudence hielt zwar ein Buch in der Hand, interessierte sich aber mehr für die Fortschritte ihres Bruders beim Schach. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben, dass sie seit einer Viertelstunde keine Seite mehr umgeblättert hatte?
Lady Blankenship hielt sich in der Küche auf, um mit dem Koch den Speiseplan durchzugehen. Wilberforce hatte ihr das gnädig erlaubt, und die junge Countess widmete sich dieser Aufgabe mit großem Eifer. Es war ein glückliches Arrangement, denn der Koch, Ihrer Ladyschaft ausgesprochen ergeben, bemühte sich seitdem noch mehr als vorher.
Sir Colin, Lord Blankenship und Lord Strickland waren, wie der stets gut informierte Majordomus wusste, auf der Suche nach Lady Melodys alter Pflegemutter. Wilberforce wünschte inbrünstig, dass sie die richtigen Eltern nicht ausfindig machten. Die Kleine gehörte ins Brown’s und nirgendwo sonst hin.
Sie selbst konnte er nicht entdecken. Vermutlich war sie mal wieder ausgebüchst und spielte auf dem Dachboden. Allein vermutlich. Es sei denn, man zählte die Königin im Turm, irgendeine Fantasiefigur, als reale Spielgefährtin. Wilberforce stutzte. Die Königin im Turm. Fehlende Teppiche.
Heute Morgen erst hatte er festgestellt, dass alle unbewohnten Räume im dritten Stock zusätzlich zu den Teppichen und diversen Möbelstücken ihrer Wandbehänge beraubt worden waren. Was ihn zutiefst befremdete, denn sein eigener Vater, ebenfalls Majordomus im Brown’s, hatte die wertvollen Stücke vor einem halben Jahrhundert angeschafft, um die luxuriöse Ausstattung der Zimmer zu unterstreichen.
Normalerweise hätte er den Vorfall sofort der Polizei gemeldet. Doch die Tatsache, dass nur in einem einzigen bewohnten Apartment ebenfalls die Wandteppiche fehlten, gab ihm zu denken. Mehr noch: Bei Lord Strickland waren zudem ebenfalls fast alle Teppiche verschwunden – genau wie in einigen der unbewohnten Räume. Davon hatte er sich schließlich mit eigenen Augen überzeugt.
Wilberforce, ein an sich geduldiger Mann, war sehr stolz auf seine
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