Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
sollte.
Ich strampele wie wild die Straße entlang und steuere ächzend vor Anstrengung auf den Park zu, während ich noch über unsere Beziehung nachdenke. Solange ich denken kann, habe ich am Rockzipfel meiner Schwester gehangen wie ein kleines Hündchen, das bewundernd zu ihr aufschaut und ihr aufs Wort gehorcht. Womöglich liegt es an dem großen Altersunterschied, dass wir nicht auf Augenhöhe sind, oder daran, dass Delilah mir immer unerreichbar erschien. Wir beide sind so grundverschieden, dass es mir oft ein Rätsel ist, wie es sein kann, dass wir miteinander verwandt sind. Und die meisten anderen Menschen sehen das genauso.
Mum hat mir früher immer den Rücken gestärkt, wenn andere Leute uns beide miteinander verglichen haben und ich den Kürzeren zog. »Evie ist mehr die Stille, Kreative von den beiden«, sagte sie dann, legte mir fest den Arm um die Schultern und erzählte dann en détail von meinem neuesten Kunstprojekt oder dem Sammelalbum, an dem ich gerade arbeitete. Aber ich sah an den desinteressierten Blicken, dass niemand das hören wollte.
Felix reckt und streckt sich gerade, als ich durch den Personaleingang hereinkomme. Es ist wieder gerade kurz nach fünf, aber diesmal fragt er mich nicht, warum ich schon in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit komme.
»Evie!«, ruft er. Er sieht wach und munter aus heute Morgen; was mich etwas beruhigt, denn ich hatte keine Zeit, ihm seinen Kaffee zu besorgen. In letzter Zeit hat er mir ein bisschen Sorgen gemacht; die vielen langen Nächte allein in dem kleinen Kabuffschienen ihn mürbe zu machen. Das ist einfach nichts für einen einsamen Witwer Mitte siebzig. Heute trägt er eine seiner vielen farbenfrohen Fliegen. Er behauptet, Maisie habe immer gesagt, die sähen sehr fesch an ihm aus. Die Farben wählt er passend zu seiner jeweiligen Stimmung aus, aber in den letzten ein, zwei Wochen hatte er überhaupt keine mehr an.
»Also«, ruft er und klatscht munter in die Hände. »Freust du dich schon auf heute Abend?«
Was bei mir zunächst Verwirrung und dann heillose Panik auslöst. Dreck. Heute ist ja Donnerstag. Der versprochene Abend mit Sam, zu dem ich auch Lily und Felix eingeladen habe, soll heute stattfinden. Aber Delilah bringt mich um, wenn ich heute Abend nicht zum Babysitten nach Hause komme.
»Oh! Ja! Klar! Kann’s kaum erwarten!«, stammele ich und grinse übers ganze Gesicht, wobei ich heftig nicke, um zu vertuschen, dass ich unsere Verabredung völlig vergessen hatte. Felix strahlt mich an und rückt seine Fliege zurecht. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr er sich auf heute Abend freut. Da kann ich ihn einfach nicht hängen lassen. Delilah wird dafür sicher Verständnis haben. Dann gönne ich mir diese Woche eben ein paar freie Abende. Und wenn schon. Eigentlich hole ich doch bloß nach, was ich in den letzten Jahren versäumt habe, oder? »Genau«, sage ich entschlossen, worauf Felix mich mit fragend gerunzelter Stirn ansieht. »Ähm, ich meine, genau, ich muss los. Viel zu tun, Sachen auspacken und so. Ähm, aber wir sehen uns dann später, Felix!«
Und damit sause ich los und versuche den Knoten zu ignorieren, der sich jedes Mal in meinen Magen schlingen will, wenn ich daran denke, dass ich Delilah schon wieder im Stich lasse. Ich greife zu meinem Handy, doch dann geht mir auf, dass es noch zu früh ist, sie anzurufen, also schreibe ich ihr eine SMS, um die ganze Sache zu erklären. Die sieht sie dann gleich beim Aufwachen, und ich hoffe inständig, sie wird nichts dagegen haben, wenn ich mir heute Abend noch mal freinehme.
Als ich dann schließlich in Janes Abteilung im ersten Stock ankomme und das Licht anschalte, sind Delilah, Felix und alles, was nichts mit der anstehenden Aufgabe zu tun hat, vollkommen vergessen. Und es ist wirklich kein Pappenstiel, was ich mir da vorgenommen habe. Vor mir erstreckt sich die Dessousabteilung wie ein endloser beiger Ozean, der in der Ferne mit dem ecrufarbenen Horizont verschmilzt. Die Wände sind mit einigen in die Jahre gekommenen Postern geschmückt, auf denen weichgezeichnete Damen mittleren Alters in Unterwäsche, die an Ritterrüstungen gemahnt, mit vieldeutigem Lächeln in die Kamera gucken. Alle Teile beginnen gleich unter dem Kinn und enden knapp unterhalb der Knie. An den Wänden reihen sich Kleiderstangen mit todlangweiligen Slips, Höschen und BHs, die schlaff an den Bügeln hängen, als hielten sie sich selbst nicht für wert, dass man sie auch nur eines Blickes würdigte. Ein
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