Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
»Schon okay, du bist wütend. Wäre ich an deiner Stelle auch. Eure Kollegen haben das nicht verdient – und ihr auch nicht. Ich weiß, wie hart ihr arbeitet, selbst in voller Besetzung. Das sehe ich sehr wohl, auch wenn es vielleicht sonst niemand bemerkt.« Ich schaue sie an, schaue in ihre bedrückten, mutlosen Gesichter. »Hört zu«, sage ich, weil mir ein Gedanke kommt. Ich könnte mich selbst in den Hintern treten, dass ich darauf nicht schon viel früher gekommen bin. »Ich wollte heute Abend mit einigen Leuten aus dem Haus was trinken gehen …« Justyna sieht aus, als wollte sie mir am liebsten ins Gesicht spucken, also rede ich schnell weiter. »Niemand aus dem Verkauf. Bloß Lily aus dem Teesalon – sie ist einfach fabelhaft – und Felix, der Wachmann, den ihr bestimmt kennt.« Jan nickt heftig. »Und ein Freund von mir, der immer die Lieferungen bringt, Sam. Wir gehen heute Abend zusammen in einen Pub. Habt ihr nicht Lust mitzukommen? Ich fände es toll, wenn wir uns mal außerhalb der Arbeitszeit ein bisschen unterhalten könnten. Ihr werdet euch bestimmt alle mögen.«
Jan strahlt über das ganze Gesicht. »Danke, Evie-englische-Ehefrau, das ist sehr gut. Wir werden kommen, ja?«
Ich könnte schwören, ich habe Justyna knurren gehört, aber da trällert Velna auch schon ein undefinierbares Lied, dreht sich dann auf einem Fuß um die eigene Achse, klatscht in die Hände und endet schließlich mit einer Schlussfigur, bei der sie die Hände hebt und dann wie bei einer Musikrevue mit den gespreizten Fingern wackelt. Wir schauen sie verdattert an, worauf sie erklärt: »Das war Gewinnertitel von meinem Land. Lettland. 2002? ›I Wanna‹? Nein?« Justyna verdreht die Augen und stellt den Industriestaubsauger an, und wir müssen alle lachen, weil Velna den Rest des Liedes mehr brüllend als singend zum Besten gibt, während Justyna um sie herum saubermacht.
Das Warenlager kommt mir kalt und leer vor nach den letzten Stunden im Kaufhaus, die ich damit verbracht habe, Janes Abteilung komplett auf den Kopf zu stellen und gleichzeitig mit Velna, die von Jan für das Stockwerk eingeteilt wurde, in dem ich arbeite, britische Eurovision-Songs zum Besten zu geben. Und sie war entzückt, dass ich so viele Lieder kenne. Ich konnte ihr sogar diese komische Geste mit dem gereckten Zeigefinger beibringen, die Michael Ball 1992 bei seinem Beitrag »One Step Out of Time« vollführt hat, dessen gesamten Text ich seltsamerweise auswendig kannte. Was allerdings leider zur Folge hatte, dass ich mir in der letzten halben Stunde anhören musste, wie sie den Titel wieder und immer wieder von Neuem trällerte.
Zum Glück klopft es an der Tür, kaum dass ich das Licht angeknipst habe.
Ich reiße die Tür auf, und Sam grinst mir verschlafen entgegen. Heute Morgen wirkt er noch strubbeliger und verknitterter als sonst. Er trägt einen alten dunkelblauen Dufflecoat und hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Augen sind rot vor Müdigkeit, und er hat noch Knitterfalten vom Schlafen auf den sommersprossigen Wangen. Er winkt mit einer proppenvollen Starbucks-Tüte und lässt sich auf mein Sofa fallen.
»Herrje«, sage ich verdutzt, und es schnürt mir fast die Kehle zu. Das muss ja eine kurze Nacht gewesen sein. Vermutlich wegen Ella. »Da lebt aber jemand auf der Überholspur. Kaffee?«
Mit einem Nicken weist er auf die Papiertüte. »Ich habe uns Lebkuchen-Latte mitgebracht, Stuten mit Trockenfrüchten und Marmelade und – um uns in Weihnachtsstimmung zu bringen – gefüllte Gewürztörtchen«, sagt er lächelnd. »Ich habe mir gedacht, wir machen ein Frühstückspicknick!« Und damit hievt er sich den Rucksack auf die Knie, macht ihn auf und zieht eine Wolldecke heraus, die er auf dem Boden ausbreitet. Dann holt er zwei Teller heraus und Besteck und verteilt das Essen auf den Tellern, um anschließend den Kaffee zum Mitnehmen auf die Decke vor dem Sofa zu stellen. Danach zaubert er auch noch Plastikbecherund eine Flasche frisch gepressten Orangensaft aus der Tasche. Dann rutscht er von der Couch, hockt sich im Schneidersitz auf die Decke und winkt mir, mich zu ihm zu setzen. Er gießt Saft ein, und wie er so nach unten schaut, hoch konzentriert, fällt mir auf, wie seine langen Wimpern die Rundung seiner Wangen streifen. Er streicht Butter auf unseren Stuten, darauf gibt er großzügig Marmelade, und dann trinkt er einen großen Schluck Kaffee.
»Mensch, das Koffein kann ich heute Morgen gut
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