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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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jedem saßen mindestens zwei Frauen. Trotz des Winters trugen sie dünne Abendkleider, so manche zeigte ihre nackten Schultern und fast alle rauchten Zigaretten aus langen Spitzen. Der Saal war nur von Kerzen beleuchtet und weiter hinten spielte man leise sogenannte Negermusik. Die unheimlichen Schatten der Tanzenden kreisten an der Saaldecke, doch bannte meinen Blick allein der gewaltige Weihnachtsbaum im Zentrum des Ganzen, eine unter künstlichem Schnee, glänzenden Metallstreifen, bunten Kugeln und Lichtern versteckte Tanne, so breit und hoch, man hatte sie wohl aus dem tiefsten deutschen Wald herbeigeschafft: Ein Baum, geschmückt wie ein barbarisches Heiligtum, das aber außer mir niemand beachtete.
    Ich beobachtete die rastlose Tätigkeit des Großmuftis, seine vielen Treffen mit wichtigen Leuten, seine täglichen Unterredungen mit den Sekretären, seine Arbeit an Reden und Artikeln, seine mal kurzen, mal wochenlangen Reisen, und es machte mich krank, selbst so wenig beitragen zu können. Doch da war niemand, dem ich es hätte sagen können, denn alles und jeder in der Umgebung meines Herrn hatte seinen festen Platz. So entsprach es seinen Wünschen, und er mochte keine Veränderungen, die nicht von ihm ausgingen. Und ich? War nur in seiner Nähe sicher, und wenn ich zurückblickte auf all das, was hinter mir in Rauch und Trümmern verschwunden war, dann wurde mir bange. Was mir zunächst als Gelegenheit erschienen war, die ich nutzen musste, verwandelte sich in die Gewissheit, zu weit gegangen zu sein.
    Manchmal in jenen Wochen und Monaten stellte ich mir die Frage, ob ich nicht der hätte bleiben sollen, der ich gewesen war. Bis ich mich eines Besseren besann und beschloss, mich zu verändern. Ich wollte lernen, ganz für mich, unbeachtet von den anderen. Wenn die wichtigen Männer kamen, deren Namen Fadil mir zuflüsterte, von Ribbentrop, von Weizsäcker, Ettel und Grobba, dann versuchte ich zu verstehen, was sie sagten, übte mich anfangs sogar darin, ihre Lippen zu lesen. Ich hielt mich im Schatten, formte ihre Mundbewegungen nach, doch die schwierige fremde Sprache machte es unmöglich. Es half nichts, ich musste unauffällig in ihre Nähe kommen. Auf diese Weise verstand ich nur einzelne Sätze, beobachtete an diesen Männern aber, was für mich viel wichtiger war: Gehorsam und Entschlossenheit.
    Ich versuchte so viel wie möglich von den Tiraden des Großmuftis aufzuschnappen, auch wenn das, was er sagte, nicht für meine Ohren bestimmt war. Ich fragte Fadil aus, wollte herausfinden, wie viel er von den Zielen und Vorstellungen unseres Herrn wusste. Es schien mir, als wäre der Aufenthalt in der Fremde, die Verlorenheit, die ich in den Nächten spürte und das Großartige um mich, von dem ich so wenig begriff, vergeudet, wenn ich nicht wenigstens eine Ahnung vom Sinn unserer Mission bekam.
    Auch erwog ich, Haddad anzusprechen, doch schließlich wagte ich es nicht. Zwar war dieser Mann mir gegenüber nicht unfreundlich, aber ebenso wie die Frau meines Herrn ließ er mich spüren, dass ich auf einer anderen Stufe stand. Das gehörte sich so, alles andere wäre ungebührlich gewesen, und wahrscheinlich war es nur der besonderen Stellung des Großmuftis zu verdanken, dass ausgerechnet dieser immer wieder einmal die Regeln brach und mit den Untersten seiner Untergebenen plauderte. In meinen Augen offenbarte dies einen lebendigen Geist voller Gedanken, die mitgeteilt werden wollten, sowie eine bewundernswerte Fürsorglichkeit.
    Ich begann diesen Mann zu verehren; nie zuvor hatte ich jemanden wie ihn gekannt. Malik hatte ich ebenso wie meinen Vater gefürchtet, und der undurchsichtige Nidal war mir immer fremd geblieben. Anders als sie glaubte der Großmufti an etwas und versuchte nicht, jede Situation nur zu seinem Vorteil zu nutzen. Dieser Glaube war es, der ihm Überzeugungskraft gab, der ihn stark machte und wichtig, selbst unter den Fremden.
    Er war ein Mann des Wissens und der Ideen und wollte doch etwas in der wirklichen Welt verändern. Und hatte er, Spross einer bedeutenden Familie, Nachfahre des Propheten, nicht auf ein Leben in Müßiggang und Reichtum verzichtet, hatte er sich nicht stattdessen in Gefahr begeben, zionistische Mörder auf seine Spur gelenkt und war über Länder und Meere hierhergeflohen um der Sache willen, an die er glaubte? Wenn etwas, dann war dies bewundernswert, und ich fühlte mich beschämt bei dem Gedanken, mein Herr könnte jetzt oder in Zukunft unzufrieden mit mir

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