Ein weißes Land
sein.
Wenn der Großmufti außer Haus war und Abu Hashim nichts Wichtigeres zu tun hatte, setzten wir uns im Salon zusammen, lernten Deutsch und besprachen die Lage. Ich fieberte diesen Nachmittagen entgegen, denn der Sekretär konnte meine Fragen beantworten, meine Zweifel besänftigen und mir zudem noch Mut zusprechen. Er war der einzige Mensch weit und breit, der ein offenes Ohr für mich hatte, und vielleicht lag es daran, dass er seinen kleinen Sohn so schmerzlich vermisste, den er keine zwei Monate gekannt hatte, bevor er überstürzt aus Bagdad geflohen war.
Fadil hingegen trug seine Abneigung gegen den Sekretär offen zur Schau. Er kannte keine Zurückhaltung, wie schon früher bei den Schwarzhemden fühlte er sich wie ein Anführer. Es fiel ihm schwer, die Rolle des Dieners zu spielen, während er sie mir ohne Weiteres zugedachte. Oft musste ich ihn daran hindern, mich herumzukommandieren, meist bemühte ich mich darum, seine Forderungen gleichmütig an mir abprallen zu lassen. Ich widersetzte mich still und er bemerkte das wohl, es machte ihn wütend und ich freute mich daran.
Wir lernten mithilfe verschiedener Bücher, die dem Büro des Großmuftis von den Deutschen zur Verfügung gestellt wurden. Zumeist waren es nicht sehr umfangreiche Studien zu Themengebieten wie: Judentum, Rassenlehre, Außenpolitik und Ostgebiete. Abu Hashim kommentierte die Texte nie, erklärte nur geduldig ihre Bedeutung. Während dieser Lektionen lernte ich die zusammengesetzten deutschen Hauptwörter lieben. Es war erstaunlich zu sehen, wie aus zwei oder mehreren Einzelwörtern ein großes, königliches wurde, das majestätisch die Zeile füllte und, einmal inthronisiert, auf allen folgenden Zeilen die manchmal sehr komplizierte Sache benannte, sie förmlich in sich aufsog, um alle weitere Erklärungen dazu überflüssig zu machen. Für mich allerdings war es oft nötig, die Königswörter insgeheim wieder auseinanderzunehmen, um sie überhaupt zu verstehen. Doch ich hatte bald eine Ahnung von der Wucht dieser Namen bedeutsamer Dinge, hatte man sie einmal zusammengeballt.
So sprachen wir mit Abu Hashim über Minderwertigkeitsdemut , Selbstzucht und Ghettodunst . Er hatte einige Schwierigkeiten, uns diese Begriffe zu erklären und versuchte Bilder dafür zu finden, die wir aus der Heimat kannten. Er beschwor die wehklagenden, ihre fauligen Gliedmaßen vorzeigenden Bettler vor den Moscheen, den Heldenmut der irakischen Soldaten und den Gestank in den Judengassen der Altstadt.
»Ich verstehe es nicht«, maulte Fadil. »Warum sprechen sie so kompliziert? Sie könnten einfach sagen, was sie meinen.«
Abu Hashim lächelte nachsichtig. »Sie wollen es nicht einfach sagen, sondern es erforschen und erklären. Sie wollen sich aller Dinge ganz sicher sein, bevor sie handeln. Und das hat sie weit gebracht. Weiter als uns.«
»Glaubst du, wir haben verloren, weil wir die Dinge nicht verstanden haben?« Der Gedanke beschäftigte mich sehr.
Abu Hashim dachte nach, wiegte den Kopf, bevor er antwortete.
»Ja. Wir haben die Engländer nicht verstanden und nicht die Juden. Wir wollten die Macht mit allen Mitteln. Aber wir hätten schlauer sein müssen.«
»Wie?«
»Die Juden wollten, dass wir gegen die Engländer kämpfen. Und diesen Gefallen hätten wir ihnen nicht tun dürfen. Aber«, er hob die Hände und streckte sie von sich, »es lag nicht in unserer Macht. Soldaten denken wie Soldaten, auch unsere. Sie können nicht anders. Wenn die ersten Schüsse fallen, greifen sie zu ihren Gewehren.«
Oft stand ich auf dem Dach der Villa und wünschte mir, wieder einmal klettern zu können. Ich schloss und öffnete die kalten Hände, spannte die Muskeln an und versetzte mich zurück in die Zeit, da ich noch an den Hauswänden geklebt hatte. Hier war nichts für mich zu tun, mein Körper schlief so lange schon, dass er taub zu werden drohte.
Ich schaute auf die Idylle des sommerlich grünen Waldsees und wunderte mich wieder einmal darüber, dass es hier kaum Mücken gab. Tiefer Frieden lag über diesem Teil der Stadt. Das Zentrum mit seinen endlosen Zeilen von Mietskasernen, mit den grollend vorbeibrausenden Bussen, den Litfaßsäulen und schreienden Zeitungsjungen schien von hier aus Teil einer anderen Welt zu sein. Auch nach vielen Monaten war ich mir nicht sicher, wo ich mich lieber aufhielt, im Hotel oder in der Villa. Zwar war es hier ruhiger, doch nirgendwo sonst auch fühlte ich meine Verlassenheit mehr. Im Hotel dagegen, inmitten des
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