Ein weißes Land
fortziehen, fiel beinahe über die Wassereimer und sandgefüllten Tüten, die hier wie in jedem Gang für mögliche Bombenangriffe bereitstanden.
Das Zimmer lag im nächsten, parallel verlaufenden Gang, und je weiter ich mich von der Tür meines Herrn entfernte, desto stärker wurden meine Zweifel an dem, was ich ohne Gegenwehr mit mir geschehen ließ. Ich schaute zurück auf meine verwaiste Filzdecke vor der nun schutzlosen Tür und dachte an die einsamen Nächte dort. Wo waren meine Vorsätze, wo meine Loyalität geblieben? Alles Unerwartete, das mir hier zustieß, wirkte bedrohlich, einfach, weil ich die Folgen nicht einschätzen konnte. Was hatte diese Frau mit mir vor, warum hielt sie meine Hand fest in der ihren und führte mich so bestimmt hinter sich her, als wäre sie meine Mutter? Ihr Haar war in Unordnung, ihr blaugraues Seidenkleid zerknittert, als hätte sie bis vor Kurzem gelegen. Alles an ihr befremdete mich, und ich wusste wohl, dass ich im Begriff war, einen Fehler zu begehen. Dennoch aber folgte ich ihr; etwas von meiner einstigen Abenteuerlust war noch wach in mir, und natürlich nahm ich mir vor, sofort zu gehen, nachdem ich der Ursache für das seltsame Geräusch auf den Grund gegangen war.
Ihre Räume waren nicht ganz so groß wie die Suite meines Herrn, die Ausstattung aber ließ auch hier nichts zu wünschen übrig. Die Frau schloss die Tür hinter uns und ich blickte sogleich aufmerksam umher. Allem Anschein nach wohnte sie hier allein. Ein von starken Lederriemen umspannter, schrankgroßer Kleiderkoffer stand neben einem ausladenden, geschwungenen Kanapee, auf dem Schreibtisch lagen viele beschriebene Bogen des hoteleigenen Papiers.
Ich trat ans Fenster. Die Vorschriften für die Verdunkelung wurden hier nicht streng befolgt, die Rollos ließen eine kleine Lücke. Ich blickte auf die nächtliche Straße hinaus. Nur wenige Autos fuhren vorbei, Radfahrer aber waren selbst zu so später Stunde in Kolonnen unterwegs. Ich hörte, wie sie hinter mir zwei Gläser füllte, doch drehte mich nicht um. Eine unbezähmbare Erregung störte meine Gedanken und machte mir den Mund trocken. Sie hatte weniger mit der Frau, als mit der Situation zu tun: So lange schon war ich nicht mehr unbeaufsichtigt gewesen, dass mich die Freiheit nun überwältigte.
»Du weißt nicht, wo du bist«, sagte die Frau hinter mir, als würde sie das Ergebnis ihres Nachdenkens verkünden. »Stimmt es nicht?«
»Doch, es stimmt«, sagte ich und schaute weiter durch den Spalt am schief hängenden Rollo.
Die breite Straße lag wie ein dunkles Becken vor mir.
»Niemand weiß das so recht«, sagte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
»Wir sind in Berlin«, murmelte ich.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch und war sicher, dass sie genau davon gesprochen hatte. Es klang wie ein fernes Lachen oder Husten, verwandelte sich in ein Röcheln und endete in einem langgezogenen hohen Wimmern. Nach ein, zwei Sekunden begann es erneut und jedes Mal veränderte es sich ein wenig.
»Hörst du es?«, fragte die Frau und setzte sich auf das Kanapee.
»Ja«, sagte ich und begann sogleich nach der Quelle zu suchen.
»Es ist die Heizung«, sagte die Frau. »Jemand vom Personal hat mir versichert, es sei kein Problem im Haus, sondern komme von draußen. Ich kann das nicht glauben. Es ist schrecklich. Wenn man nicht redet, wird es mit der Zeit immer lauter.«
Nach Sekunden des Schweigens stellte ich fest, dass sie recht hatte. Nun war ein Kratzen dazugekommen, unwillkürlich hatte ich die Vorstellung, jemand würde die Wand heraufklettern. Das Licht, gefangen unter den dicken Stoffschirmen der Lampen, die eigenartige, möblierte Leere des Raumes und die verhängte Fensterfront machten mich unruhig. Ich sah die Frau mit angezogenen Beinen dasitzen, die Hand mit dem Glas in Höhe des Kopfes.
»Trink etwas«, sagte sie und wies zum gläsernen Beistelltisch.
Ich nahm das Glas und stellte mich vor sie.
»Wie heißt du?«, fragte ich, nahm einen kleinen Schluck und musste mich zwingen zu schlucken.
»Das sage ich dir nicht«, lächelte sie.
Ich ging zum Schreibtisch und überflog die Briefbogen nach einem Namen. Die Schrift war schwer zu lesen.
»Lora?«, entzifferte ich schließlich unsicher.
»Ich sage es dir nicht. Namen sind unwichtig, ich frage dich auch nicht nach deinem.«
Mein Gaumen hatte sich zusammengezogen, mein Mund war ausgedörrt.
»Was ist das?«, fragte ich sie und hielt mein Glas vor mich.
»Egal, trink einfach.
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