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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Es wird dir guttun.« Sie erhob sich und ging ans andere Ende des Raumes. »Magst du Musik?«
    Ich bejahte und trat wieder ans Fenster. Aus einem elektrischen Grammophon ertönte leise ein schwermütiges Lied in deutscher Sprache. Nur eine Männerstimme und ein Klavier waren zu hören, und für mich klang es nicht angenehm. Die Abende im Café in Bataween fielen mir ein, ich nahm wieder einen Schluck und diesmal rann mir das geheimnisvolle Getränk leicht die Kehle hinunter, es fand seinen Weg von selbst und wärmte mich. Nicht die Musik ließ mich plötzlich wehmütig werden, es war die Erinnerung. Von hier aus erst, in einem fremden Zimmer, konnte ich zurückblicken und ahnte, dass alles, was ich hinter mir gelassen hatte, für mich verloren war. Ich dachte an Mirjam, und seltsamerweise an ihren dunklen Haaransatz, den ich im Cadillac damals mit den Augen abgetastet hatte. Wo bin ich?, fragte ich mich und spürte die Wirkung des Alkohols.
    Die Frau stand hinter mir, ich bemerkte es erst, als ich ihren Atem, einen kaum spürbaren Hauch, wahrnahm.
    »Du weißt nicht, wo du bist«, sagte sie wieder, diesmal aber klang es wie eine Beschwörung. »Es hat sich hier so viel verändert, du ahnst es nicht.«
    Sie erzählte mir mit leiser Stimme von einem Theater nicht weit von diesem Hotel. Ich verstand nicht alles, aber es war wohl ein großes Haus für Tausende von Besuchern. Innen glich es einer Höhle, von deren Decke spitze Zapfen hingen. Vor langer Zeit einmal war es eine Art Zirkus gewesen. Danach wurden dort bedeutende Theaterstücke aufgeführt, klassische Werke der Weltliteratur, und das Volk kam und erlebte sie wie vorher die Zauberkunststücke. Es wurde ein Ort der Freude und der Belehrung zugleich.
    »Etwas sehr Seltenes«, fügte sie in theatralischem Tonfall an.
    Das war nun vorbei, alles war zerstört. Ich nickte stumm. Sie kam näher.
    »Du weißt nicht, wovon ich spreche, oder?«
    Das Lied war zu Ende, sie ging hinüber und setzte die Nadel wieder an den Anfang.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das gefällt mir«, sagte sie bestimmt und begann wieder von früher zu erzählen, von einer Zeit, als diese Stadt hier das Zentrum Europas war, erfüllt von Musik und strahlend hell beleuchtet bei Nacht, mit Leuchtreklamen statt Lichtfallen und voller verrückter Gestalten von überall her.
    Ihre Stimme klang weich, und ich spürte jedes ihrer Worte im Nacken. Mehr als auf sie achtete ich jedoch auf die Musik. Ich empfand sie als bedrückend und begriff nicht recht, warum Menschen sich freiwillig in eine solche Stimmung versetzen ließen. Abschied und Tod, Traurigkeit und Fremdsein, das waren für mich Dinge, über die man nicht länger als nötig nachdachte. Aber in diesen Raum mit der Frau, hier, wo alles Schwermut atmete, passte sogar eine solche Musik.
    »Warum bist du hier?«, fragte ich sie, weil ich irgendetwas über sie erfahren wollte.
    Sie schien verblüfft, überlegte kurz und sagte:
    »Ich habe das, was man in diesen Zeiten braucht: den richtigen Beschützer. Er hat eine, sagen wir, günstige Position und sorgt gut für mich, sehr gut, wie du siehst. Sonst wäre ich ganz woanders. Ich bin ihm sehr, sehr dankbar dafür, verstehst du.«
    Ich spürte ihre Hand auf dem Rücken.
    »Gehst du gern von hier fort?«
    »Nein«, flüsterte sie, »es ist, als müsste ich sterben.«
    Ich verstand das nicht. »Weil du deine Familie zurücklässt?«
    Sie war zum Grammophon hinübergegangen und spielte eine andere Platte. Jetzt ertönte eine hohe, verzückte Frauenstimme.
    Wieder bei mir, stellte sie sich hinter mich und sagte:
    »Nein.« Sie legte mir die Hand in den Nacken. »Dreh dich um.«
    Ich hörte sie wohl, doch rührte mich nicht. Ich hatte es erwartet und jetzt, als es geschah, schlug mir das Herz im Hals. Mein Körper begann ein Eigenleben zu führen, löste sich mit der Berührung aus der Kontrolle und schien ihrer Hand folgen zu wollen. Sie drängte mich sanft und ich fügte mich, wandte mich um und blickte hilflos in ihr gerötetes Gesicht. Ich fürchtete, sie nun wie in den Filmen küssen zu müssen, denn ich hatte nichts als ein Bild davon im Kopf und das zeigte nur zwei Köpfe von der Seite. Doch sie machte keine Anstalten, hielt ihre Hand in meinem Nacken und zog mich mit sich.
    Das riesige Bett, auf das sie sich setzte, übertraf mit seinen Kissenhaufen und Seidenbezügen jenes, das ich mir vorstellte, wenn ich von einer Liebesnacht mit Mirjam träumte. Der Gedanke daran ging mir kurz durch den Kopf,

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