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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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jetzt noch, wenn ich mich bemühe, sie vor mir zu sehen, schwer zu erkennen.
    Sie zogen zum Torfstechen hinaus oder arbeiteten im Materiallager, wo sie in ihren Lumpen mit den Massen von Kleidung, Koffern, Schuhen und sogar Spielzeugpuppen verschmolzen, die zu jener Zeit unaufhörlich aus der gesäuberten Umgegend zusammengetragen und von ihnen sortiert wurden. Ich sah sie in den Bergen versinken, sich zwischen Hosenbeinen, Jackenärmeln, Röcken und verblichenen Blusen wieder hervorkämpfen, um hastig etwas Leichtes zum Forttragen zu finden und so ihre Erschöpfung nicht sehen zu lassen.
    Die Ukrainer, die selbst bei eisiger Kälte in verschwitzten, aufgeknöpften Hemden herumgingen, abends die Bar belagerten und feierten, sobald sie ihren Schnaps bekamen. Dann musste man sich vor ihnen in acht nehmen. Wir blieben in unserer Baracke und lauschten auf ihr Gejohle. Normalerweise hätten sie es nie gewagt, die SS -Unterkünfte zu betreten, doch betrunken waren sie unkontrollierbar.
    Alle paar Wochen wurden mit Fuhrwerken oder der direkt zum Lager führenden Bahn für die Materialtransporte Frauen herbeigeschafft. An diesen Abenden hörten wir Fiedeln, Akkordeonklänge, Pfiffe und wildes Geschrei. Und manchmal sah ich sie sogar: stämmige, hellhäutige Weiber, die Beine und Arme von blauen Flecken übersät. Ständig wurde ihnen ein Flaschenhals in den Mund geschoben, sie tranken und tranken und tanzten, bis sie nicht mehr stehen konnten und mit roten, aufgedunsenen Gesichtern zu Boden fielen.
    Ich legte mich auf die Pritsche, das Gewehr quer über der Brust, so schlief ich ein und erwachte bei jedem Schrei, der herübergellte. Gerade am Anfang waren in diesen Nächten die Ukrainer der Feind.
    Schließlich gab es noch die Balten, Türken, Aserbaidschaner, Kaukasier, Araber, wer weiß, wen noch alles. Wir Muslime beteten mit unserem Imam und die anderen schauten von ihren Baracken aus zu, als würden sie Zeugen eines Kunststücks. Ich erflehte leise, so bald wie möglich fortzukommen von diesem Ort, ich wollte wieder mit dem Zug fahren und in die Landschaft hinausschauen.
    Die Deutschen aber stolzierten umher, als wären sie prachtvolle Vögel. Sie übersahen uns einfach bis zur nächsten Feldübung und immer waren sie unzufrieden.
    »Wo kommst du her«, brummte Dr. Stein, »ich meine, eigentlich?«
    Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke. »Aus Bagdad«, sagte ich. »Dort war ich ein Dieb und kletterte die Häuser hinauf.«
    »Das ist schön, klingt nach Abenteuern und den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Stimmt das denn auch?«
    Die Schwestern schoben zwei weitere Betten ins Zimmer, gleich darauf wurden die Verwundeten gebracht. Ihr Röcheln und Winseln war von der ersten Sekunde an unerträglich. Einer verlangte Wasser und der Doktor gab nach einem Blick auf ihn ein Zeichen zu den Schwestern hin. Mit nassen Schwämmen, die man ihnen zwischen die Lippen drückte, wurde ihr Durst gelindert.
    »Das sind die Bauchschüsse«, sagte der Doktor. »Du musst mit ihnen zurechtkommen, weil wir keinen Platz haben. Es werden immer mehr.«
    »Ist der Aufstand noch nicht vorbei?«, fragte ich.
    »Sie kommen nicht aus Warschau«, antwortete der Arzt.
    Ich blickte zum Fenster hinaus.
    »Was ist mit meinem Gesicht?«
    »Du hast Glück gehabt. Dein Rücken macht mir im Augenblick mehr Sorgen.«
    Damit verließ er mich, zurück blieb das Stöhnen der Verwundeten. Es umgab mich, wenn ich einnickte und wenn ich aus dem Schlaf schreckte, gepeinigt von der Furcht, mich vielleicht nie wieder bewegen zu können.
    Unwillkürlich dachte ich an Fadil, der mich bei diesem Abenteuer hatte begleiten müssen, auch wenn es ihm wahrscheinlich nur darum ging, das Objekt seines Hasses nicht aus den Augen zu verlieren. Der Großmufti hatte nicht ahnen können, wohin er seine Schützlinge schickte, und hätte ich damals gewusst, was uns bevorstand, ich hätte Fadil gezwungen, in Berlin zu bleiben.
    In den Baracken des Ausbildungslagers mussten wir Freunde werden, ob wir wollten oder nicht. Niemand, außer vielleicht einem Deutschen, konnte dort allein überleben. Zu hart war der Drill, zu oft wurden wir daran erinnert, wer wir waren. Die Ausbildung machte uns zwar zu Angehörigen der deutschen Streitkräfte, doch als Fremdvölkische blieben wir nichts als Hilfstruppen im Dienste der Waffen- SS .
    Je mehr Zeit verging, desto drückender wirkten die Umgebung und das Einerlei der Tage. Der Exerzierplatz und die Reihe von Gebäuden für die SS waren

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