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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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wiederkehren zu lassen, als würde er es kauen.
    Dann die Kirche, klein im Fenster, weit entfernt, hinter roten Dächern. Und doch gewaltig, aus dunklen Steinen gemacht, wie eine Burg zum Schutz eines zerbrechlichen Schatzes. Ich sah das warme Licht des Spätnachmittags auf diesen Steinen, und kurz schien mir das vertraut. Es war angenehm, die Türme zu betrachten, wie sie mit scharf gezeichneten Konturen in den Himmel aufragten, als könne nichts sie zerstören, außer einer undenkbar langen Zeit. Doch ich wusste es besser. Das Fenster mit dem fleckigen Holzrahmen hatte mir schon anderes gezeigt, in anderen Häusern. Es schien alles zu umschließen, was ich gesehen hatte, es war so klein und schmutzig, dass es niemanden schützte, weder vor der Winterkälte noch vor der Vernichtung.
    »Nicht dies oder das: Stillgestanden bedeutet Stillgestanden. Ihr Muselmänner wollt Soldaten sein, aber ihr könnt nicht einmal gerade stehen. Im Leben kommt der Moment, da muss man Haltung zeigen, da reicht es nicht, den Arsch hochzureißen und den Kopf in den Sand zu stecken. Für euch ist dieser Moment gekommen. Aber nicht, weil ihr jetzt in Uniform seid. Auch nicht, weil ich euch treten werde, bis ihr im Schlaf eine Schützenlinie bilden könnt. Sondern einzig und allein, weil ihr nichts anderes mehr habt als eure Dankbarkeit. Und hier lernt ihr, sie zu zeigen.«
    Sie redeten gern, hielten dazu die Hände hinter dem Rücken. Und ich war stolz auf meine Uniform, auch wenn ich von Anfang an dafür bezahlen musste, sie zu tragen.
    Mir kam ein scheußlicher Gedanke, und plötzlich war ich ganz wach. Die Augenschlitze, durch die hindurch ich sah, waren nicht meine, etwas Unbewegliches lag auf mir. Ich befreite die Hand von der Decke und tastete langsam nach meinem Gesicht. Auf Höhe des Halses zögerte ich. Erneut blickte ich zu der Kirche hinaus und diesmal stand sie drohend da, aufgetürmt gegen alles Fremde, gegen mich. Und wieder wusste ich nicht, wo ich war. Bevor ich nach meinen Lippen tastete, suchte ich jemanden im Raum, den ich fragen konnte, was geschehen war.
    Neben mir stand ein weiteres Bett, ein atmender Mensch lag darin. Doch er konnte mich nicht sehen, denn auch sein Kopf war verbunden und die Ränder der Verbandbahnen, dort, wo sein Mund sein musste, bewegten sich. Ich ertastete meine Unterlippe in einem Verbandschlitz und ahnte, dass ich genauso aussah wie der Mann neben mir. Ich befühlte meinen Körper am Bauch und abwärts, alles war an seinem Platz, die Füße konnte ich bewegen. Ich ließ den Kopf zurückfallen, sah mich selbst im Bett liegen und hörte wieder den Lärm; jetzt war er leise, tiefer in mir, wie zusammengepresst.
    Ich lag in einem Lazarett. Wann immer ich konnte oder musste, weil die Geräusche im Kopf unerträglich wurden, blickte ich zu dem Fenster hinaus. Die Stadt draußen war kaum zerstört, nur Rauch lag in der Luft wie überall. Wie lange schon hatte ich keine Gebäudemauern ohne Brandspuren und Löcher gesehen Ich wartete lange, bis endlich der Arzt kam.
    »Wo bin ich?«, sagte ich, aber der Mann tat, als würde er mich nicht hören. »Wo bin ich?« Diesmal sprach ich lauter.
    »In Sicherheit, vorerst.« Er warf mir die Antwort beiläufig hin und verabreichte mir eine Spritze.
    »Mein Junge«, sagte er, »du bist in Krakau. Du bist verletzt und wir müssen dafür sorgen, dass du keine Infektion bekommst.«
    »Was ist mit meinem Gesicht?«
    »Das weißt du nicht?«
    »Nein.«
    »Dann sollte ich mich vielleicht erst um deinen Kopf kümmern.«
    Das war alles, mehr sagte er nicht, er ließ mich im Zimmer zurück und wieder begann das Warten.
    Beim erneuten Versuch, mich zu erinnern, wurde ich unruhig und zog die Decke fort. Ich wollte meine Beine sehen und richtete mühsam den Oberkörper auf. Plötzlich durchfuhr mich ein stechender Schmerz, gerade noch sah ich die von rotbraunen Abschürfungen entstellten Oberschenkel, dann sank ich zurück.
    Gleich darauf erinnerte ich mich, und ich glaube, es fiel mir damals ebenso schwer wie heute. Doch ich wusste wieder, wo der Exerzierplatz gewesen war, hatte das Ausbildungslager und die Fremdvölkischen deutlich vor mir, sah den Kamin der ehemaligen Zuckerfabrik und die roh gezimmerte Bar. Männer aus aller Herren Länder waren dort an einem Ort versammelt, doch die Gruppen blieben voneinander getrennt. In den Häftlingslagern die halbverhungerten Russen, Kriegsgefangene, und KZ ler wie die Juden, sämtlich dem Tod geweiht und auf seltsame Weise selbst

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