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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Mörsern war die Rede, weit entfernt zwar, aber im Operationsgebiet der Division. Zwei Ortschaften mussten gesichert werden, die als Rückzugsbasen infrage kamen. Dabei ging es nicht darum, die Täter zu finden, sondern ihre Möglichkeiten zu beschneiden.
    Der Sturmbannführer hatte recht, die Bedrohung war allgegenwärtig. Aus der tauenden Erde stieg Dunst auf, er lag über dem Land und färbte es grau. Und noch etwas war beständig, die Kälte, mein Frösteln unter der grauen Feldjacke, das mich dazu zwang, ständig in Bewegung zu bleiben, weil es jedes Stillstehen und Warten zu einer Qual werden ließ. Nur die dumpfe Todesangst und die atemlose Spannung kurz vor der Feindberührung waren noch stärker.
    Ich erinnere mich an die exakt vorgegebenen Gräben für die Granatwerfer, die wir wie im Schlaf aushoben und stets mit zwei Extrakammern für die Munitionskisten versahen. Daran, wie wir in solchen Gräben ausharrten und, das Kinn auf der Erde, über das flache Land blickten, durch von Schneekristallen überzuckerte Grashalme hindurch bis zu den Rauchfahnen, die vor dem grauen Himmel wie fantastische, plumpe Bäume aufragten und allmählich im Wind zergingen. Die Ortschaften waren wenig mehr als Ansammlungen von Holzhäusern mit windschiefen Dächern und Türen, mit winzigen Fenstern und großen Kaminen. In einem patrouillierten wir die weiche, schlammige Straße entlang auf eine weiße Kirche zu und fanden niemanden vor, keinen Menschen, nicht einmal ein Tier. Das kleine Portal stand offen und das Gebäude war leer, es gab darin nur den Schnee, hereingeweht durch die leeren Fensteröffnungen und das beschädigte Dach.
    Welch ein Land, dachte ich, wandte mich am Ortsrand kurz um und schaute über die Ebene: Ein gigantisches Land, so weit und leer und kalt, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können. Ungläubig ließ ich den Blick über den Horizont wandern, trat näher an die in Brand gesteckten Hütten und genoss die Hitze. Ich betrachtete die verbrennenden groben Decken und Vorhänge mit ihren hübschen, einfachen Blumenmustern, und plötzlich lärmten drei Tadschiken heran, die irgendwo hinter dem Brunnen doch noch Gefangene gemacht hatten. Sie brachten einen alten Mann mit schmutziggrauem Bart und drei Jungen, die seine Enkel hätten sein können. Alle trugen sie viel zu große Wollmäntel, hielten den Blick gesenkt und reagierten nicht auf das Gebrüll um sie. Müller-Abig befahl, sie zu durchsuchen, und die Tadschiken fanden bei einem der Jungen ein Messer, nicht mehr als ein Spielzeug. Jetzt mussten sie die Hände über die Köpfe heben und wurden gefragt, wo die Dorfbewohner geblieben seien. Doch sie sagten nur:
    »Nix Partisan.«
    So verging eine Weile, bis das mit Benzin gelegte Feuer in der Kirche ein paar Frauen heraustrieb, die sich versteckt und auf das steinerne Gebäude vertraut hatten. Es waren fünf unterschiedlichen Alters, zwei hatten ihre Kinder dabei. Prasselnd stürzten die Hütten in sich zusammen, die Einheit wartete auf weitere Befehle und Müller-Abig blickte unruhig ins Umland hinaus. Doch nie zog der Rauch in den Siedlungen einen Angriff der Partisanen nach sich, sollten sie ihn gesehen haben, so ertrugen sie den Anblick geduldig.
    Leichter Schneefall setzte ein, als wir die übrig gebliebenen Bewohner des Ortes vor dem Brunnen Aufstellung nehmen ließen. Geduckt scharten sich die Menschen umeinander, die Mütter zogen ihre Kinder an sich und hielten ihnen die Augen zu.
    Jener dort, das denke ich oft, war nicht ich, jener in der Feldjacke mit den Wehrmachtshosen und den zu großen Schuhen. Wie an dem Fenster damals, als Mirjam vor mir stand, bin ich gefangen in der Erinnerung und kann mich nicht bewegen. Doch es ist nur ein Bild von mir, losgelöst von allem, was ich jetzt empfinde. In dieser Erinnerung atme ich nicht und fühle keinen Schmerz, nicht einmal Freude. Es ist nur ein Bild. Alle von damals sind fort und mit ihnen der lebendige Moment, der mich umschloss wie die Luft und der mich ein anderer sein ließ, ein Vergangener. Wenn ich auf diesen jungen Mann blicke, ist er ein Kamerad von vielen, eingereiht und leblos wie auf einem Foto. Befehle waren alles, und wenn Müller-Abig mit seinem Buchhaltergesicht und seiner ewigen angestrengten Sachlichkeit fähig war, grausame Befehle zu befolgen, dann konnten wir das erst recht: die Elite einer großen Armee, die Besten im »großen Völkerfressen«, wie Berner es nannte. Man vergisst im Gehorsam.
    Panzer sah ich im Frontrücken

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