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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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in der Krankenstube auf dem Bett und wartete darauf, dass meine Mitbewohner kamen. Verzweifelt versuchte ich, vorher einzuschlafen, doch je mehr ich mich darum bemühte, desto weniger wollte es mir gelingen. Meine Stimmung war jetzt niedergedrückt und wieder beschäftigte mich der Gedanke, wie ich von hier fortkommen konnte. So weit war ich gefahren und jetzt schien keine Gasse mehr übrig, der ich noch folgen konnte.
    Unsere Einheit stand immer unter dem besonderen Schutz von Sturmbannführer Müller-Abig. Er wachte darüber, dass wir gut versorgt wurden und unsere Imame sicher waren auf dem langen Weg von Dresden oder Berlin bis zu uns. Wir alle lernten seine Fürsorge erst später wirklich schätzen, als unfähige Leute das Kommando übernahmen. Im Frühjahr, während der Einsätze in der Nähe von Minsk, war Müller-Abig stets bei uns und das schien selbstverständlich. Er war streng, ein sehr genauer Beobachter mit großen, blassen Augen und einem angespannten Mund, der sagen zu wollen schien: Es ist schon gut, aber für den Ernstfall noch nicht gut genug. Dann wieder wirkte er abwesend, spielte mit seiner Mütze herum und rauchte. Es konnte geschehen, dass er einen von uns ansprach. Und obwohl er dabei stets die Form wahrte, verunsicherte es uns, denn wir waren das einfach nicht gewöhnt. Meist erkundigte er sich nach Kleinigkeiten, oft aber auch nach unseren religiösen Überzeugungen.
    Man sah ihm an, dass er Sorgen hatte. Er war der Baumeister dieser neuen Einheit, die längst noch nicht Regimentsstärke erreicht hatte, und versuchte jeden Tag aufs Neue die Stimmungslage zwischen den verschiedenen Volksgruppen, aus denen sie bestand, zu ergründen.
    Bekamen wir Neuzugänge, war er bemüht, die Einheiten sorgfältig zu gruppieren. Dazu ließ er einen Holztisch auf den Appellplatz hinaustragen und breitete darauf eine große Karte Asiens aus. Mit ihrer Hilfe ordnete er die Neuen bestimmten Regionen zu. Er war überzeugt davon, dass man sie gleichmäßig auf die Kompanien verteilen musste, um Zwistigkeiten zu vermeiden. Dennoch überzeugte er sich davon, dass die einzelnen Züge im Hinblick auf die Herkunftsregionen nicht allzu weit voneinander entfernt waren; das wiederum sollte die innere Zusammengehörigkeit jeder Kompanie stärken. So wurden Kirgisen und Kasachen getrennt eingeteilt, hingegen Usbeken und Tadschiken, sowie Turkmenen und Osttataren kombiniert. Dies aber geschah nach einem System, welches gewiss niemand der auf dem Platz Angetretenen je hätte verstehen können. Es war eine der rätselhaften Eigenschaften Müller-Abigs: Er setzte alles daran, noch die kleinsten Unterschiede zu berücksichtigen. Das war mühevoll; zwei Stunden lang sahen wir ihm und seinem zurückhaltenden Adjutanten Popp dabei zu, wie sie immer neue Kombinationen durchdachten und die Vorzüge jedes Einzelnen beim Blick auf die Karte erörterten. Als sie endlich fertig waren und alles geregelt schien, standen noch fünf Männer auf dem Platz, die der Sturmbannführer übersehen hatte. Popp räusperte sich und zögerte, bis Müller-Abig, der die Karte bereits zusammenfaltete, ihm heftig zunickte.
    »Es sind noch welche übrig«, sagte er leise und hielt dabei einen Zettel hoch.
    Müller-Abig fuhr herum, erblickte die fünf und warf die Karte auf den Tisch zurück.
    »Und?«, fragte er ungehalten.
    »Es sind Kalmücken.«
    »Es sind was?«
    »Kalmücken«, sagte Popp tapfer.
    »Machen Sie Witze?«
    Der Adjutant blickte auf seinen Zettel und fuhr fort:
    »Hier steht ›mslm‹ – ich nehme an, das bedeutet muselmanisch.«
    Müller-Abig faltete die Karte wieder auf, versuchte sie auf dem Tisch zu glätten, doch der Wind fuhr unter das riesige Stück Papier und blähte es wie ein Segel. Der Sturmbannführer verlor die Geduld, ließ die Karte davonfliegen und ging mit großen Schritten zu den Kalmücken hinüber.
    »Bolschewik – kaputt?«, fragte er sie mehrmals.
    Die Männer nickten und lachten wie Kinder und Müller-Abig steckte sie wie uns Araber in den erstbesten Granatwerferzug.
    Ein weiteres Problem stellten die Russen dar, die er selbst aus Gefangenenlagern rekrutiert hatte. Sie allein füllten mehrere Baracken, ihr Wortführer war ein gewisser Arkadi, ein kleiner, zäher Mann, mit seinen weißblonden Haaren und Augenbrauen beinahe schon unheimlich anzuschauen. Über jeden Einzelnen in der Einheit gab es eine Legende, die sich rasch herumsprach und es leichter machte, ihn einzuordnen. Von Arkadi und seinen nächsten

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