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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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hierherkommen, um es zu sehen.«
    »Was zu sehen?«, fragte ich.
    »Die Revolution, den Aufstand von morgen, die Zukunft.«
    »Die Armee wird es nicht zulassen.«
    Ezra lächelte. »Die Armee. Was glaubst du, wessen Kinder die Rekruten von morgen sein werden?«
    »Warum hast du nicht Ephraim hergebracht? So käme er mal an die frische Luft und könnte seine Brille abnehmen … «
    Ezra lachte. »Du magst ihn wirklich nicht, was? Ist es wegen Mirjam?«
    Ich schüttelte rasch den Kopf.
    »Sie hat nach dir gefragt«, sagte er und blickte mich von der Seite an. »Lass uns hinuntergehen.«
    Ich folgte ihm schweigend.
    Mit jedem Schritt wuchsen meine Zweifel. So teilnahmslos diese Leute vom Bahndamm aus auch gewirkt haben mochten, jetzt sahen sie zwei Fremde, die in ihr Reich eindrangen, und es kam Bewegung in sie. Nach kurzem Innehalten warnten die Kinder die Erwachsenen. Ein Junge umtanzte die gebeugte Gestalt einer Frau, die wohl seine Mutter war. Diese wiederum rief etwas Unverständliches in den schmutzigen Verschlag hinein, vor dem sie stand.
    Ezra ging unbeirrt weiter. Er hielt sich sehr gerade und schaute umher, als suchte er jemanden. Alsbald waren wir von einer größer werdenden Menschengruppe umringt, die sich mit uns bewegte. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass Ezra, so selbstbewusst, wie er einherschritt, schon wissen würde, was er tat. Doch eigentlich wollte ich diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.
    Wieder einmal spürte ich den Unterschied zwischen uns. Ezra hatte einfach eine völlig andere Art, die Dinge zu sehen. Wenn er neugierig war, dann hielten ihn keinerlei Bedenken zurück. Nie schien er zu fürchten, wovor ich ständig auf der Hut war: bestraft zu werden für allzu viel Wagemut. Das ist die Art der Reichen, dachte ich und glaubte, meinen Vater sprechen zu hören. Die Reichen fühlen sich immer sicher, denn sie wissen, für all ihre Probleme gibt es eine Lösung. Aber er wird mich nicht im Stich lassen, sagte ich mir und überwand die Zweifel. Wenn ich nur nah genug bei ihm bleibe, wird er, egal, was passiert, auch mich retten.
    Am Fuße eines Hügels war die Meute groß genug geworden, um sich uns in den Weg zu stellen. Ich blickte in die von Ausschlägen und Wunden entstellten Gesichter der Männer. Nichts in ihren Blicken und Gesten verriet ihre Absicht, doch viele hatten Knüppel dabei, auf die sie sich stützten.
    Hinter uns ertönte wieder das stampfende Geräusch eines Zuges. Ich blickte mich um, die Krähen flogen in Schwärmen auf, ich sah die gewaltige Dampfsäule über dem Schornstein zergehen und wie der Lokführer das Tempo drosselte vor der niedrigen Brücke in der Ferne, die den eigentlichen Stadtrand Bagdads markierte.
    Einer der Männer trat vor und forderte Zigaretten von uns. Ich starrte auf die ausgestreckte dürre Hand und wich zurück, als ich im hellen Mittagslicht die vielen Flöhe auf der schmutzigen Haut erkannte. Ezra gab dem Mann, was er wollte, und dieser hastete mit seiner Beute zurück. Nun umringten seine Leute ihn und Unruhe kam in die Gruppe.
    »Jetzt könnten wir abhauen«, flüsterte ich.
    »Nein, warte noch«, sagte Ezra.
    Der flohverseuchte Mann wandte sich, die Zigarette im Mund, zu uns und winkte.
    »Seid ihr von der Polizei?«, fragte er.
    »Nein«, erwiderten wir beide, doch der Mann beachtete es nicht.
    Er hob seinen Stock und bahnte sich einen Weg durch die Meute. Immer wieder blieb er stehen und bedeutete uns, schneller zu folgen, wir aber hielten Abstand.
    Wir gingen auf den Hügel und oben blieben die meisten der Leute zurück, als wüssten sie alle nur zu gut, wo der Mann uns hinführte. Der heiße Wind fuhr uns in die Kleidung, als wir hinabstiegen. Die Lumpen des Mannes vor uns hoben sich, gaben seinen nackten dunklen Rücken frei. Wir rochen den Rauch der Zigarette, die er nicht aus dem Mund nahm. Nach ein paar weiteren Schritten waren blasse, dunkle Flecken auf der hellen Erde zu erkennen. An dieser Stelle blieb der Mann stehen und begann mit dem Stock in den Boden zu stechen. Er traf etwas, hebelte es aufwärts, tat dies an mehreren Stellen, und der vollständig bekleidete Körper eines Mannes hob sich aus dem Sand. Er lag auf dem Bauch, trug noch seine Schuhe, die ihm lediglich von den grauen Fersen gerutscht waren.
    Der Mann wandte sich zu uns. Die Zigarette drohte seine Lippen zu verbrennen, doch noch immer spuckte er sie nicht aus.
    »Er liegt schon seit gestern hier. Ihr müsst ihn mitnehmen, sonst fressen ihn die

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