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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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zum Treffpunkt.
    »Was meint er damit? Ich verstehe es nicht«, sagte ich.
    »Man muss darüber nachdenken.«
    »Ich weiß. Bin ich ein Geistloser für dich?«
    »Manchmal schon.«
    Während der Abendstunden war der Markt von Öllampen erleuchtet. Die Händler räumten ihre Shops auf, die Lumpensammler krochen durch die Abfälle und prüften jedes Fundstück gewissenhaft.
    Ezra und ich folgten der Hauptgasse quer durch die Halle bis zum Eingang auf der anderen Seite.
    »Wenn du wüsstest«, brummte ich.
    »Wenn ich was wüsste?«
    »Wie geistlos ich bin.«
    »Komm schon, das war nicht so gemeint. Du bist empfindlich geworden. Woran liegt das?«
    »Wenn du wüsstest.«
    »Was meinst du?«
    Ich antwortete ihm nicht.
    »Mein Vater hat auch etwas über dich gesagt.«
    Ich schwieg, wandte Ezra aber das Gesicht zu.
    »Er meint, du seist ein guter Junge, aber würdest unserer Familie Unglück bringen. Mein Vater ist ein bisschen abergläubisch, musst du wissen. Aber wenn man an das Auto denkt und an den toten Menahem damals, dann kann man ihn ja auch verstehen.«
    »Ich war nicht schuld daran.«
    »Nein, das weiß er auch. Aber er glaubt, seit wir uns kennen, seien nur schlechte Dinge geschehen. Höhere Mächte, verstehst du. Meine Mutter verbringt Nachmittage damit, den Kaffeesatz zu lesen. Sie ist überzeugt davon, unser aller Zukunft vorhersagen zu können, wenn sie das Zeug aus der Tasse auf den Teller schüttet und genau betrachtet. Tut deine Mutter das auch?«
    Ich sagte ihm, dass ich keine Mutter mehr hatte.
    Das Treffen fand lange nach Einbruch der Dunkelheit in einem Privathaus statt. Es war ein gepflegtes, aber kleineres und unauffälliges Gebäude, kein weiterer Palast, wie ich erwartet hatte. Unter den Feigenbäumen im engen Innenhof saßen zehn vornehmlich junge Männer auf Sitzkissen im Gras und ließen ein dickes Buch herumgehen, in dem sie abwechselnd blätterten. Sie lasen einander Passagen daraus vor und diskutierten darüber.
    Ephraim hörte eine Weile zu, hatte aber immer das letzte Wort. Er fasste zusammen, was die anderen gesagt hatten, nahm das Buch vorsichtig in beide Hände, blätterte darin oder hielt es vor sich, als würde er darauf schwören, und gab dann die Antwort auf alle Fragen. So schien es, doch manchmal wartete er nach seinem letzten Satz kurz ab, blickte in die Runde und richtete listig eine Frage an sich selbst, die er vorgab, nicht beantworten zu können.
    »So leicht sollt ihr es euch nicht machen. Wer sagt euch, dass ich recht habe? Alles könnte ganz anders sein, und nur weil ich es sage, ist damit noch nichts gesagt. Ihr sollt denken und nicht mich anstarren wie die Affen.«
    In diesen Augenblicken war Ephraim nahe daran, in Rage zu geraten. Mir kam es vor, als wäre er wütend auf sich selbst, als quälte ihn seine belesene Überlegenheit mehr, als sie ihn erfreute. Ich beobachtete Ephraim genauer, nachdem er mich den anderen vorgestellt und mir einen Platz zugewiesen hatte. Ich bemerkte das leichte Zittern seiner Hände, wenn er die Buchseiten zwischen den Fingern hielt, sah seinen fast ausgemergelten Hals mit dem hüpfenden Adamsapfel und hörte die zuweilen vor Aufregung versagende Stimme. Das geschah immer dann, wenn er einen besonders wichtigen Gedanken zu erläutern suchte. Worum es eigentlich ging, verstand ich nicht. Es hatte mit dem Kapitalismus und der Revolution zu tun, und viel war die Rede von den Arbeitern. Diese aber schienen mehr so etwas zu sein wie Soldaten in einem künftigen Krieg, der unabwendbar war.
    Ich dachte an die Arbeiter, die ich kannte, an die Jungen in der Ziegelei, an die Lastenschlepper und Gleisbauer. Keine einzige dieser von mannigfachen Krankheiten befallenen, ewig um Tabak bettelnden Gestalten erschien mir wie ein Soldat in Ephraims Krieg. Und doch würden sie es werden müssen, glaubte man dem Buch in Ephraims Händen.
    »Was ihr verstehen müsst, ist, dass wir hier nicht von einer möglichen Entwicklung reden, sondern von einer notwendigen. Nicht, weil der jüdische, der islamische oder der christliche Gott es so will. Nein, es ist das Gesetz der Geschichte, ihre Bewegung.«
    »Was ist Geschichte? Ist sie stärker als Gottes Wille?«, fragte ein Mann, der aussah wie einer der vielen kleinen Beamten, die spätnachmittags mit gesenktem Blick aus den Regierungsgebäuden zu fliehen schienen und von denen mein Vater zu sagen pflegte, sie täten das aus Angst vor dem Nichtstun.
    Ephraim zögerte kurz, war sich nicht sicher, was er antworten

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