Ein weißes Land
dass die Frauen Polinnen waren und dass dort, in Polen, grauenhafte Dinge geschahen. Massenhaft wurden nach ihren Worten Menschen erschossen und in den Wäldern in riesigen Gräbern verscharrt. Sie berichtete von einer Stadt mit Namen Tarnow, in der die SS auf dem Marktplatz am helllichten Tag Hunderte von Juden erschlagen hatte.
Die Zuhörer vor dem Schlafsaal blickten verwirrt, niemand wollte so recht glauben, was die kleine Frau da hastig von sich gab. Doch ihr Anblick war so überzeugend, dass jeder, wenigstens für den Moment, ihren Schrecken teilte. Die SS – nicht zum ersten Mal hörte ich davon. Aber diesmal hatte das Wort, der Laut, für den es keine Übersetzung gab, einen besonderen Klang. Diesmal wurde dadurch etwas angekündigt, und ich sah es in den geschwollenen Augen der Frau. Jene, die ihr beistand, hatte aufgehört zu übersetzen, als diese noch immer sprach. Der Schrecken verschwand in der fremden Sprache, als sauste er über Ströme und Berge zurück in das ferne Land. Die Inder gingen rücksichtsvoll leise wieder an ihre Arbeit und der Pulk um mich löste sich auf.
7.
B is spät in die Nacht stand ich mit anderen auf dem Dach der Botschaft und schaute sorgenvoll über den Fluss zur Stadt hinüber. Die englische Frau hatte sich bereits zurückgezogen, ich war frei und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Sie würde aus der belagerten Botschaft nicht herauskommen und damit war meine Aufgabe eigentlich erledigt. Doch hatte ich für diesen Fall keine Anweisung bekommen. Ich betrachtete die vibrierenden, auf der Wasseroberfläche tanzenden Lichter, den leicht sandfarbenen Nachthimmel zwischen Kuppeln und Palmen, als mit einem Schlag Dunkelheit hereinbrach. Die Leute auf dem Dach gaben Laute des Erstaunens von sich, kurz herrschte Stille, dann begannen zwei Frauen zu weinen. Jeder wusste, dass dieser Stromausfall ein unmissverständliches Zeichen war.
Ich traf eine Entscheidung, suchte nach dem sichersten Weg hinaus und fand ihn auf der dem Fluss zugewandten Seite des Gebäudes. Im Hof der Botschaft wurden Stimmen laut, unter den Leuten, die auf der Wiese schliefen, entstand Unruhe und schließlich ertönte das Rattern eines Notstromgenerators. Das Dach leerte sich allmählich, ich blickte mich nicht um, sondern wartete geduldig ab. Von der Stadt war kaum noch etwas zu sehen, vereinzelt flackerte Feuerschein auf. Grauer Staub schien die Häuser verschluckt zu haben und nur die in der Nähe ließen noch ihre düsteren Fensterhöhlen erkennen.
Allein auf dem Dach, war ich in Sekundenschnelle auf der Mauer und kletterte abwärts. Mir fehlte nach so langer Zeit die Übung, ich musste mich bremsen und, an den Stein geschmiegt, innehalten, sonst wäre ich abgestürzt. Meine Finger waren schwach geworden, doch nach einer Weile kehrte etwas von der alten Kraft in sie zurück. Ich schnaufte laut, aber das Geräusch des Generators übertönte alles. Unten ließ ich mich auf den Treppenabsatz fallen und schlich die breiten Stufen hinunter bis zum Fluss. Ratlos stand ich vor dem Wasser, fand jedoch gleich darauf an der hölzernen Mole eines jener schmalen Boote, wie sie die Dunglieferanten benutzten. Langsam und sehr vorsichtig machte ich es los, stieß es auf den Fluss hinaus und legte mich hinein. Ich wartete lange, bevor ich den Kopf hob und zur Botschaft zurückblickte. Niemand hatte mich bemerkt und so nahm ich das lange Paddel, richtete mich auf und steuerte das Boot auf die Stadt zu.
Bedrohlich schälten sich die Gebäude zuseiten des Flusses aus dem Dunst. Angestrengt lauschte ich auf Stimmen, versuchte am Ufer eine Spur von Leben auszumachen. Doch alles war wie ausgestorben, als hätte der Stromausfall bei jedermann einen lähmenden Schock ausgelöst.
Der einzige Ort, zu dem ich jetzt gehen konnte, war der Offiziersclub, obwohl ich nicht sicher war, dort jemanden anzutreffen. Aber ich musste Nidal finden, ich brauchte neue Anweisungen und, dringender noch, brauchte ich Schutz. Allein auf dem Fluss fühlte ich ungeheure Verlassenheit und nackte Angst. Nur mühsam konnte ich sie unterdrücken. Ich fürchtete den leeren dunklen Himmel, an dem jederzeit ein englischer Flieger auftauchen konnte, der mich vielleicht für ein lohnendes Ziel hielt. Und ich fürchtete die Leute, die sich jetzt, im Schutz der Dunkelheit und des Chaos, herumtrieben. Als ich mich langsam dem Ufer näherte, wurde mir bewusst, wie fremd mir meine eigene Stadt geworden war. Was wusste ich über meine Nachbarn, an die
Weitere Kostenlose Bücher