Ein weißes Land
ich nie einen Gedanken verschwendet, die ich nie anders gesehen hatte, denn als selbstverständlichen Teil meines täglichen Lebens. Konnten sie sich verwandeln? Was geschah mit ihnen, wenn sie sicher sein konnten, völlig unbeobachtet zu sein?
Ich ließ das Boot zurück, ohne mir die Mühe zu machen, es zu vertäuen, stieß es einfach fort und stieg mit nassen Schuhen die Uferböschung hinauf.
Vom Bab ash Shaik her betrat ich die Rashid-Straße und stahl mich um die Hausecken wie ein Dieb. Dunkle Gestalten schlichen durch die Nacht, jede erfüllt von der Angst, die auch mich vorantrieb. Ich atmete flach und lauschte auf jedes Geräusch. Bisher waren noch keine Schüsse gefallen, vielleicht, so beruhigte ich mich, bleibt es dabei. Ich kam an Nischen vorbei, in denen bei Kerzenschein Menschen hockten. Große, glänzende Augen starrten mich an, doch niemand sagte ein Wort. Ich versuchte jedem Verschlag auszuweichen, den ich für verdächtig hielt, schließlich ging ich raschen Schritts auf der Straße, immer wieder hinter mich blickend und hoffend, dass sie so leer blieb, wie sie zu meiner Verwunderung war. Zugleich aber wusste ich, wenn die Angst aller so groß war, dass sie in den Häusern blieben, dann war es umso gefährlicher, hier allein herumzulaufen. Es herrschte Krieg, und wer immer wollte, konnte mich gefangen nehmen oder gar umbringen. Obwohl ich Ähnliches nie zuvor erlebt hatte, war mir die Lage so schmerzlich bewusst, als wäre ich lange schon auf diese Nacht vorbereitet gewesen.
Verschwitzt und außer Atem erreichte ich endlich den Offiziersclub. Inzwischen fühlte ich mich wieder abgerissen wie früher, meine neuen Kleider waren schmutzig und nass. Im Gebäude herrschte reges Treiben, auch hier lärmte ein Notstromgenerator, die Fenster waren beleuchtet und durch die Gänge hasteten die Schwarzhemden. Einige trugen große Strohbesen herum, andere hatten farbverschmierte Hände. Ich wunderte mich nicht weiter darüber, drängte an den Jungen vorbei und suchte in jedem einzelnen Raum nach Nidal. Als ich ihn endlich fand, überkam mich kurz Erleichterung, mein Körper wollte zusammensacken, ich musste das Gähnen unterdrücken.
Nidal ließ mich warten, ständig waren Schwarzhemden, Soldaten und Zivilisten bei ihm, um den Lagebericht zu hören. Ich zog mich in eine Ecke des Raumes zurück und hörte zu. Demnach war dieser Stromausfall, anders als die kürzeren vorher, absichtlich herbeigeführt und diente der Abwehr der britischen Angreifer in Bagdad. Anders nämlich als es die Radioübertragungen vor dem Stromausfall unaufhörlich gemeldet hatten, waren die irakischen Truppen im Kampf gegen die Briten unterlegen. Man rechnete jetzt allgemein mit einem Gegenangriff auf die Hauptstadt zum Sturz der Regierung Rashid Alis.
Nidal trank unaufhörlich Whisky; zwar verdünnte er ihn mit Wasser, doch die Wirkung war unübersehbar. Seine Hände zitterten leicht, der Schweiß glänzte auf seiner Stirn und seine Worte kamen langsam und schleppend. Die Lage musste ernst sein, denn so hatte ich ihn noch nie erlebt. Unwillkürlich fragte ich mich, was aus mir werden würde, wenn all das eintrat, wovon Nidal beschwörend sprach, ganz so, als könne er sich von der Vorstellung nicht lösen. Obwohl ihm dabei das Wort Niederlage nie über die Lippen kam, lag es in der Luft, wurde von allen wie ein Gift eingeatmet.
Nidal aber war nicht betrunken genug, um die Stimmung kippen zu lassen. Er sprang auf, ruderte mit den Armen und versuchte, die allgemeine Verzweiflung in Entschlossenheit zu verwandeln. Seine Uniform war übersät von Flecken, das Whiskyglas in seiner Hand drohte seinen Inhalt in die Runde zu ergießen, dennoch gelang es ihm, in den Männern Hoffnung auf eine überraschende Wendung des Schicksals wachzurufen.
Als er später zu mir herüberkam, stützte er sich auf meine Schulter und lachte wie ein übermütiger Junge, der allen einen gelungenen Streich gespielt hatte. Er hielt noch immer das Glas in der Hand, näherte mir sein Gesicht und flüsterte:
»Du musst etwas für mich tun, hörst du.«
Ich blickte konzentriert geradeaus.
»Du gehst mit den Schwarzhemden und markierst die Shops. Tu einfach so, als wärst du einer von ihnen. Auf diese Weise bist du in der Gruppe und in Sicherheit. Danach aber versuchst du Malik zu finden. Hörst du? Du gehst zu Malik.«
Allein die Vorstellung, ihn in der dunklen Stadt suchen zu müssen, erfüllte mich mit Schrecken.
»Soll ich allein gehen?«, fragte ich.
Nidal
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