Ein weißes Land
das vorstellen? Dein Vater ist bestimmt noch nicht einmal mit einem Auto gefahren. Und du wirst wie ein Vogel hinausfliegen in die Welt.« Sein Blick war verschleiert, die Flasche in seiner Hand hatte er bereits geöffnet. »Oder willst du lieber hierbleiben?«
Ich suchte das Gelände nach irgendeinem Zeichen ab. Aber da waren nur die in der glühenden Mittagshitze aufsteigenden Staubschwaden, die sinnlos vibrierenden Schwärme von Insekten und die Gebäude, schutzlos mit ihren offen stehenden Türen und Fenstern.
»Der Großmufti ist wie ein König. Er hat viele Feinde und will sein Gefolge bei sich haben, nur bewährte Leute, solche, denen er vertrauen kann. Sogar sein deutsches Funkgerät hat er mitgenommen.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Er ist schon seit Tagen in Teheran. Hast du geglaubt, er würde hier warten, bis die Briten oder die Zionisten ihn erledigen? Alle sind weg. Ich schicke euch als Hausdiener zu ihm. Was also willst du tun?«
Mein Vater war der einzige Mensch, der mir geblieben war. Und wenn er mir auch nicht sehr nahestand, so dachte ich jetzt doch beinahe sentimental an ihn. Doch es war nur der Abschied von meinem früheren Leben, der mir dieses Gefühl eingab, eine Schwere des Herzens, die gleich darauf der Vorfreude wich auf all das, was nun kommen würde. War dies nicht die beste Zeit, mein Leben zu ändern, war nicht die Stadt, die ganze Welt in einem nie gesehenen Umbruch? Noch einmal zogen die Bilder von Zerstörung und Tod an mir vorbei, all das, was ich gesehen hatte und was angetan gewesen wäre, mich mit Schrecken zu erfüllen. Doch ich atmete schneller, nicht vor Angst, sondern in Erwartung meiner kommenden Abenteuer. Ich wusste, mir war ein besonderes Schicksal vorbestimmt, jetzt wusste ich es genau: Ich würde reisen, wie Sindbad würde ich über die Weltmeere kreuzen und eines Tages zurückkehren als ein Mensch, wie man ihn nur aus Büchern und vom Kino her kennt.
»Was ist?« Nidal wurde unruhig. »Wenn du bereit bist, gehen wir ins Magazin hinüber. Wir müssen euch ausstaffieren. Entscheide dich jetzt.«
Ich sagte also ja und Nidal wandte sich sofort um und bedeutete uns mit der Flasche, ihm zu folgen.
Der alten arabischen List gemäß, gehörten Frauenkleider zum Fundus der Kaserne, ebenso Zivilkleidung jeder Art und sogar Polizeiuniformen. In langen, weiten Gewändern und mit der Abbaja darüber, verließen wir das Gelände. Nidal fuhr zur Faisal-Brücke und übergab uns an einen verängstigten alten Mann, der mit seinem Eselskarren den ganzen Vormittag über dort ausgeharrt und dem marodierenden Mob zugeschaut hatte. Alles musste schnell und unauffällig geschehen; ich kletterte nach Fadil auf den Karren, und wir zogen die Säume der Abbajas vor die Gesichter.
Nidal packte meinen Arm und sagte:
»Vergiss deinen Auftrag nicht, egal, wo ihr seid.« Mit einem kleinen Stoß löste er seinen Griff und wir begannen unsere Reise.
Erst jetzt, als ich wieder die in Rauch gehüllten Straßenzüge sah, überkam mich etwas wie ein Schuldgefühl. War es wirklich möglich, dass ich all das erlebt hatte, dass ich so viele Menschen hatte sterben sehen und nicht mehr davon zurückbehielt als die brennenden Kratzer in meinem Gesicht? Im Grunde waren Malik und die anderen für mich nicht tot, obwohl ich ihre Leichen in Salomons Garten gesehen hatte. Für mich lebten sie noch, vertrieben sich die Zeit im Camp unten am Fluss. Doch schleichend langsam legte sich ein Schatten auf diesen Gedanken, es war, als würde eine vertrocknende Blume ihre Farbe verlieren. Übrig blieb nur die trostlose Erinnerung, verschlossen in mir; eine Geschichte, die niemand sonst erzählen konnte, denn ich war der einzige Überlebende.
Der alte Händler fuhr uns in die Nähe der italienischen Botschaft. Unterwegs begegneten mir die Blicke von umherstehenden Männern, alten wie jungen, und ich bemerkte, welch eine Wirkung meine Kleidung hatte. Sie sahen in mir eine Frau und konnten wahrscheinlich sogar noch erkennen, dass sie relativ jung war. Manchmal schauten sie auf die Hand, mit der ich nah am Gesicht die Abbaja festhielt, dann wieder musterten sie meine Gestalt.
Fadil neigte sich zu mir und sprach durch das schwarze Tuch hindurch:
»Welchen Auftrag meinte mein Vater?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Eine unwichtige Sache. Sag, weißt du, wohin wir fahren?«
»Ja«, antwortete er, »zu den Italienern. Es ist alles vorbereitet.«
»Wenn nicht, verschwinden wir einfach«, brummte ich, doch Fadil ignorierte
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