Ein weites Feld
»Archibald Douglas« vor. Strophe folgte Strophe. Reim paßte auf Reim. Vom wohlbekannten Einstieg -»Ich hab es getragen sieben Jahr und ich kann es nicht tragen mehr …« – über des alten Grafen Bitte – »König Jakob, schaue mich gnädig an …« – und des Königs schroffe Zurückweisung – »Ein Douglas vor meinem Angesicht wär ein verlorener Mann …« – bis zum versöhnlichen, noch immer das Herz anrührenden, wenngleich die Historie verfälschenden Ausblick – »Zu Roß, wir reiten nach Linlithgow, und du reitest an meiner Seit! Da wollen wir fischen und jagen froh als wie in alter Zeit …« -sagte er die kaum einem Schulbuch fehlende Ballade auf: dreiundzwanzig Strophen lang ohne Versprecher, ohne zu stolpern, mit Betonung. Sogar den dramatischen Höhepunkt »Und zieh dein Schwert und triff mich gut und laß mich sterben hier …« setzte er wirksam ergreifend. Und dennoch deklamierte kein Schauspieler, nein, der Unsterbliche sprach. Kein Wunder, daß der Betrieb an allen Tischen verstummt war. Niemand wagte, in seinen Cheeseburger, in seinen BigMäc zu beißen. Beifall belohnte Fonty. Jung und alt klatschte. Die Kassiererin Sarah Picht rief vom Tresen herüber: »Spitze! Das war Spitze!« Sein Vortrag hatte so sehr begeistert, daß zwei schrille Mädchen, die in der Nähe saßen, aufsprangen, herbeihüpften, ihn umarmten und abküßten, wie ausgeflippt. Und ein vom Bier aufgeschwemmter, in viel nietenbeschlagenes Leder gezwängter Glatzkopf hieb
Fonty auf die Schulter: »War ne Wucht, Alter!«
Das Personal und die Stammkundschaft waren baff vor
Staunen: So etwas hatte es bei McDonald’s noch nie
gegeben.
Wir vom Archiv wären weniger erstaunt gewesen. Seit
Jahren trug uns Fonty, manchmal auf Wunsch, häufiger
ungebeten, »seine« Balladen vor, auch
Gelegenheitsgedichte, wie das Poem zu Menzels
siebzigstem Geburtstag, »Auf der Treppe von Sanssouci«,
oder kurze Widmungen nur, für Wolfsohn, Zöllner, Heyse
bestimmt. Unvergeßlich ist den älteren unter uns ein
spätherbstlich trüber Nachmittag geblieben, anno 61, als
wir uns durch die leider notwendig gewordenen
Maßnahmen entlang unserer Staatsgrenze zwar vorm
Klassenfeind geschützt, doch gleichermaßen wie
eingesperrt vorkamen. Um jene Zeit, es wird im
November gewesen sein, kam Fonty über nunmehr
langwierige Umwege auf Besuch und hat uns mit der
späten Ballade John Maynard«, die vom brennenden
Schiff auf dem Eriesee handelt, zu trösten versucht: »Und
ein Jammern wird laut: ›Wo sind wir? wo?‹ Und noch
fünfzehn Minuten bis Buffalo.« Mag sein, daß uns damals,
als Dr. Schobeß noch Archivleiter war, die rettende und
heldenmütige Tat des Steuermanns -»In Qualm und Brand
hielt er das Steuer fest in der Hand …« – Hoffnung auf
bessere Zeiten, auf freieres Wort, auf nachlassende
Zwänge gemacht hat; jedenfalls gelang es ihm, uns ein
wenig aufzumuntern. Und wie Fonty dem sozialistischen
Alltag Glanzlichter gesetzt hat, so hob er mit strophenreicher Darbietung die Stimmung bei
McDonald’s. Sogar Hoftaller klatschte Beifall.
Danach saßen beide nur noch für sich. Kundschaft ging,
Kundschaft kam. Fonty wieder mit Hut. Da die
Pappbecher leer waren, holte Hoftaller eine weitere Cola
und für sich einen Milchshake, diesmal mit
Vanillegeschmack. Am Tresen hatte das Personal
gewechselt: keine Sarah Picht mehr. Sie sückelten sparsam
und ließen dabei ihre Gedanken treppab eilen. Endlich bei
sich angekommen, sagte Fonty: »Habe diese Ballade mit
einigem Erfolg, doch unter anderem Titel im Tunnel
gelesen: ›Der Verbannte‹.« Hoftaller erinnerte sich: »Zwei
Jahre nach Ihrem ersten von uns geförderten Londoner
Aufenthalt war das. Lange nach den revolutionären
Umtrieben. Um genau zu sein: am 3. Dezember 1854. Wir
hatten Sie wieder bei der ›Centralstelle‹ in Dienst
genommen. War ja nicht einfach, für den abgebrochenen
Apotheker ne Existenzgrundlage zu finden. Natürlich gab
Merckel seinen Segen dazu. Zu observieren war damals
bei Ihnen nichts mehr. Die letzten achtundvierziger
Flausen hatte Freund Lepel dem Revoluzzer ausgetrieben.
Adlig war der Herr, wie die meisten Tunnelbrüder, liberal
und doch standesbewußt. Jedenfalls ließ das freundliche
Herrensöhnchen keine Herweghiaden mehr zu. So kamen
Sie unter die Preußen! Und denen gefiel das geschickte
Gereime dieser Rührstory – ›Graf Douglas faßte den Zügel
vorn und hielt mit dem Könige Schritt …‹ –, die Ihnen
immer noch, wie man hören konnte, ungebrochen über
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