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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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bemerken können, wie
verlegen ich während der Rezitation auf das auf meinem
Teller vereinzelte Radieschen gestarrt habe, als sei mir ein
Hühnerdreck auf den Teller gefallen. Blamabel das Ganze!
Hätte die Einladung ausschlagen sollen, als Stephany,
freundlich wie immer, anfragte. Hätte nein und danke
bestens sagen sollen, wie meine Emilie, aber auch Mete,
die nicht dabei waren, angeblich fehlender Garderobe
wegen, aber wohl eher doch, weil meine liebe Frau wieder einmal in Sorge war, ich könne mich in vornehmer Gesellschaft nicht recht benehmen und womöglich Unschickliches sagen, so daß man sich hätte genieren müssen. Schrieb deshalb an Stephany zurück: ›Muß ich Ihnen die Weiber schildern? Meine sind in einer Todesangst, daß ich mich blamieren könnte. Jede Frau wird diese Angst nie los; es muß wohl an uns liegen …‹« Fonty starrte auf die leergefutterten Schachteln, als läge in deren Mitte noch immer das einsame Radieschen vom 4. Januar 1890. Das Jahr des jungen Kaisers, der, forsch von Anbeginn, seinem Kanzler den Laufpaß gab. Und im Vorjahr der Triumph der Freien Bühne, deren Intendanz der Unsterbliche ein Stück, Hauptmanns Erstling »Vor Sonnenaufgang«, empfohlen hatte: »Na, Tallhover, fällt der Groschen? Ende Oktober neunundachtzig? Und zwar im Lessing-Theater: Uraufführung. Schrieb in der Vossischen ziemlich begeistert gleich zweimal nacheinander. Und prompt war Emilie wieder in Angst, ich könnte, was den Hauptmann und seine schwarze Realistenbande betreffe, zu weit gehen. Ich engagiere mich ungebührlich, hat sie gesagt. Jedenfalls haben selbst Sie diesen völlig entphrasten Ibsen nicht aufhalten können. Und als dann das Deutsche Theater ›Die Weber‹ brachte, mit Liebknecht und weiteren Sozis im Parkett, war es mit den Bismarckschen Sozialistengesetzen vorbei; was Ihresgleichen natürlich nicht arbeitslos gemacht hat. Der Schnüffelei war kein Ende gesetzt. Hält sich bis heutzutage. Ist wohl auf Ewigkeit abonniert. Respekt, Tallhover! Respekt, Hoftaller!« Nun starrte Fontys Tagundnachtschatten auf die leeren Schachteln, die Pappbecher und die zerknüllten Papierservietten, als läge zwischen ihnen zerknautscht jener Theaterzettel, der die Premiere der Hauptmannschen »Weber« angekündigt hatte. Das war mehr als nur ein Skandal gewesen. So viel verletzte Sicherheit. So viele unterlassene Verbote und am Parlament gescheiterte Umsturzvorlagen, so viele schriftliche Eingaben und vorzeitige Hinweise während Kaiser- bis Stasizeiten, die alle mißachtet worden waren.
Zu viel Vergeblichkeit.
»Gehen wir!« rief Hoftaller. »Im Mitropa warten noch
immer unsre jungen Poeten.«
»Glaube kaum, daß ich für weiteres Geschwätz aufgelegt
bin.«
»Sie wollen doch nicht etwa kneifen?«
»Keine Festivitäten mehr. Mein Bedarf ist gedeckt!« »Aber aber. Um ne kleine Nachfeier werden Sie nicht
herumkommen …«
»Und wenn ich nein sage?«
»Ratsam wäre das nicht.«
Indem Fonty verzögert und wie von innerem Zaudern
gehalten aufstand, sagte er:
»Übrigens wüßte ich gerne, auf wessen Gehaltsliste Sie
stehen werden, wenn es unseren Arbeiter- und BauernStaat nur noch als Konkursmasse geben wird?« Dann
seufzte er und stützte sich auf den Wanderstock:
»Zweifelsohne, das findet kein Ende. Warum wird man
siebzig?«
    Sie ließen einigen Müll zurück, als beide zwischen vollbesetzten Tischen auf den Ausgang zusteuerten. Plötzlich blieb Fonty wie auf Anruf stehen. Nahe dem Tresen mit den sechs Kassen und grünbemützten Kassiererinnen sah er eine Frau seines Alters, die, mit Blick auf ihn, ständig ihr rechtes Auge verkniff, als wollte sie ihm zuzwinkern. Ihr steingraues Haar hatte sie beiderseits zu Gretchenzöpfen geflochten und mit knittrigen Propellerschleifen, die eine rot, die andere blau, gebunden. Die Zöpfe standen ab. Um den dürren Hals trug sie eine aus getrockneten Hagebutten gereihte Kette in doppelter Schlinge. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt, in die Schlitze für die Arme geschnitten waren. Ihre löchrigen Handschuhe. Sie stand in Holzpantinen. Der halbvolle Sack neben ihr sagte nichts über seinen sperrigen Inhalt. Ein Lederkoppel, dessen Schloß die Rote Armee auswies, hielt die Decke zusammen. Und mit beiden Handschuhen, durch deren Löcher sie fingerte, faßte sie einen BigMäc, der ihr, fehlender Zähne wegen, Mühe machte. Doch während sie zubiß, dann mümmelnd kaute, zwinkerte unablässig ihr Auge, bis endlich auch Fonty ihr zuzwinkerte, mehrmals.
    Sie muß ihm

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