Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
reiche Wessi Grundmann meine Schwester Martha, die arme Ostmaus, aufgegabelt hat. Erzähl mal, Schwager! Aber die Wahrheit. Nichts hören wir lieber als rührende Geschichten, obendrein gesamtdeutsche mit glücklichem Ausgang.«
    Der Verlagskaufmann, der in Wuppertal einen evangelischen Missionsverlag leitete, dessen gemischtes Programm nicht nur Besinnungsliteratur bis hin zu religiösen Traktaten anbot, sondern auch die Dritte Welt und deren unerlöstes Elend zum Thema hatte, fragte nicht ohne Hintersinn und von mir vermuteter pietistischer Tücke, denn die Vorgeschichte der Liebesbeziehung zwischen dem westlichen Bauunternehmer und der sozialistischen Lehrerin galt als familiäre Verschlußsache und war deshalb nicht allen am Tisch bekannt; selbst mir, dem Trauzeugen, hat die Braut keine Einzelheiten anvertraut. Nur andeutungsweise ahnte ich etwas von der dazumal gewagten Liaison, die sich über Jahre mitsamt ihren Heimlichkeiten hingeschleppt hatte. Sogar die Brauteltern wußten wenig. Allenfalls war Hochwürden Matull, als Marthas Beichtvater, unterrichtet.
    »Warum nicht!« sagte der Bräutigam. »Jetzt kann man ja offen darüber reden.
    Verstehe, daß da für meinen lieben Schwager, na, sagen wir mal, ein gewisser Nachholbedarf herrscht. Hoffentlich ist er nicht enttäuscht, wenn wir ihm nicht mit Zweideutigkeiten dienen können.«
    »Nur die Wahrheit …«
»Die sollst du haben. Das war vor etwa sechs Jahren. Unser, wie du schon sagtest, gesamtdeutsches Treffen fand im Juli, und zwar bei Bullenhitze in einem
    Strandhotel am Schwarzen Meer statt, wohin ich häufig, unserer Großbauten wegen, auf Geschäftsreise mußte, doch diesmal mit Familie, obgleich meine Frau schon damals …«
    »Muß das sein, Heinz-Martin! Bitte dich wirklich. Außerdem geht das Friedel nichts an. Nie hat er mich gefragt. Kein Brief, nix …«
    »Und ich bitte dich, liebe Martha, mich nicht zu unterbrechen. Dein Bruder will unbedingt alles bis aufs iTüpfelchen hören. Soll er haben. Juli vierundachtzig. Bulgarien. Die Ferienküste bei Varna. Ziemlich überlaufen. War damals nicht nur beliebtes Reiseziel der sonst eingesperrten Leute aus der Sowjetzone, die du, lieber Friedel, schon als Halbwüchsiger verlassen durftest, auch Westdeutsche, simple Bundesbürger wie meine Familie, die Kinder, nicht wahr, Martina, waren dabei, machten dort Ferien, doch in meinem Fall kamen, zugegeben, einige damals noch im Rohbau stehende Projekte hinzu. Jedenfalls suchten wir Entspannung und ich gewiß auch das Gespräch mit den ansonsten vom Westen abgeschnittenen Landsleuten, weil mir die gewaltsame Teilung Deutschlands schon immer ein nicht einfach hinzunehmender Zustand gewesen ist; vielmehr glaubte ich felsenfest an die Wiedervereinigung …«
    »Und Martha, wann taucht Martha auf?«

    »Geduld, Schwager. Das kommt. Keine Geschichte ohne
    Fundament. Wer vom Bau ist, versteht, was ich meine. Deshalb dieser dir vielleicht überflüssige Hinweis auf das Unrecht der Teilung. Jedenfalls wurden die westdeutschen Tische – wie damals üblich, saß und aß man getrennt zuerst bedient, selbstverständlich der Währung wegen. Wir saßen, das heißt meine leider im folgenden Jahr schon verstorbene Frau, die Kinder und ich, ziemlich am Rand der westdeutschen Reservierung und aßen schon – weiß nicht mehr, was genau – wahrscheinlich Fischfilet …«
    »Stimmt nicht, Papa! Brathähnchen gab’s mit Pommes frites, ziemlich fettig alles …«
»Verstehe. Martina erinnert sich, was das Essen angeht, genauer. Jedenfalls saß innerhalb der Ostreservierung, doch mehr zum Rand hin, eine einzelne Dame mit immer noch leerem Teller, als wir schon beim Dessert angelangt waren. Jetzt fällt es mir wieder ein: Die Kinder hatten Hähnchen, wir Schaschlik bestellt. Auf jeden Fall konnt ich das nicht mit ansehen, wie Martha, denn das war sie, vorm leeren Teller saß …«
»Gib zu, Schwager, war Liebe auf ersten Blick!«
»Mein lieber Friedel, als Verleger hundertprozentig frommer Bücher sollte dir eigentlich christliches Mitleid …«
»Aber Papa! Es war doch Mama, die uns auf die skandalöse Bevorzugung der westlichen Touristen aufmerksam gemacht hat.«
»Verstehe! Ihr seht, meine Tochter – wie alt warst du damals, Martina? Keine fünfzehn – weiß noch genau, wie sehr uns diese offensichtliche Schikane empört hat. Und deshalb bin ich kurzentschlossen aufgestanden und zu dem Tisch rüber …«
»Du irrst schon wieder, Heinz-Martin. Von meiner Schwester weiß ich,

Weitere Kostenlose Bücher