Ein weites Feld
doch auch ein wenig belustigt zugehört hatte. »Alles furchtbar richtig!« rief er. »Doch die Schuld ist ein weites Feld und die Einheit ein noch weiteres, von der Wahrheit gar nicht zu reden. Wenn du aber Schriftliches für deinen Verlag haben willst, könnte ich dir mit einer Auswahl meiner Kulturbundvorträge helfen; sind zwar keine Schuldbekenntnisse und Wahrheitsergüsse, handeln aber vom Leben, das mal so und mal so ist. Und was die Einheit betrifft, stehen wir auf dem alten deutschen Standpunkte., daß wenn der Sondershauser eins abkriegt, so freut sich der Rudolstädter …« Diesmal rettete Martina Grundmann den Tischfrieden in brenzliger Situation, indem sie ihr Mißbehagen an der Einheit auf die Feststellung brachte: »Also Dresden, das sagt mir gar nichts. Von Köln ist es nach Paris viel näher oder nach Amsterdam.«
Worauf Fonty abermals »Furchtbar richtig« sagte, um dann in Schweigen zu versinken, so unablässig ihn seine Tischnachbarin ins westdeutsche Universitätswesen und also in ihre germanistischen Seminare einzuführen versuchte. Ganz ungehemmt gab Martina Grundmann zu, so gut wie nichts vom Unsterblichen gelesen, doch immerhin die Fassbinder-Verfilmung von »Effi Briest« gesehen zu haben. »Aber Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel, daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller …« Als Fonty nun doch nach dem »Stechlin« fragte, hörte er, wieviel Selbstbewußtsein fröhlich auf Unwissenheit fußen kann: »Ich weiß ja, daß der Ihr Einundalles ist. Das hat mir Martha gesagt. Aber um ehrlich zu sein: Nur ein paar kürzere Sachen hab ich angefangen, irgendwas mit Verwirrungen und Schach von sowieso. Komm da nicht weiter: diese ewigen Spaziergänge und seine endlosen Dialoge. Sind ja manchmal ganz witzig, bestimmt. Und kann gut sein, daß das seine besondere Erzähltechnik ist, wie unser Prof sagt. Außerdem halt ich nicht viel von Großschriftstellern oder von Unsterblichen, wie Sie die nennen. Ach, ich sag jetzt einfach du und Opa Wuttke, darf ich? Also, ich bin mehr für das Minimalistische, wenn du verstehst, was ich meine. Na, Fragmentarisches oder in der Kunst überhaupt, sowas wie Concept-art. Aber auch Randfiguren können ganz interessant sein. Unser Prof hat ein paar ausgegraben. Waren früher ziemlich berühmt sogar. Paul Heyse zum Beispiel, wenn dir der ein Begriff ist. Hat später sogar den Nobelpreis gekriegt. Heut kennt den keiner mehr. Und deshalb finden wir den interessant, weil … Na, weil man den wiederentdecken kann. Unser Prof will extra ein Seminar über Heyse und noch ein paar andere machen … Natürlich muß man das alles nicht lesen, nur Kurzfassungen … »Außerdem gibt es ja Sekundärliteratur …« Eigentlich hätte ich mich einmischen und Martina einen Besuch des Archivs vorschlagen wollen, hielt mich aber dann doch zurück, weil einerseits die Braut Zuspruch verlangte und andererseits Fonty an seiner plapprigen Tischnachbarin Vergnügen fand. Er zitierte einige Tunnelverse von Heyse, darunter den Begrüßungsvers »Silentium, Lafontaine hat’s Wort …«, und versuchte, den immerhin möglichen Gewinn beim Lesen von Originaltexten anzupreisen. Doch Martina und der Prof von Martina wußten es besser: Der Urtext sei bloßer Vorwand für das, was Literatur eigentlich ausmache, nämlich den endlosen Diskurs über all das, was nicht geschrieben stehe und über den Urtext hinausführe, ihn nebensächlich, schließlich gegenstandslos werden lasse und so den Diskurs fördere, bis er den Rang des eigentlich Primären erreicht habe. »Irrsinnig interessant find ich das!« rief die Studentin im vierten Semester. Und Fonty wollte nur noch wissen, ob soviel Sekundäres nicht »kolossal ledern« sei. Dann fügte er nicht etwa resigniert, eher heiter hinzu: »Wenn man will, mein Kind, kann man die längste Geschichte kurz fassen. Zum Beispiel ist beim ›Stechlin‹ die Mache: Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles auf fünfhundert Seiten.« Mag sein, daß Hochwürden Matull aus dieser Bemerkung eine Anspielung auf die gegenwärtig tafelnde Hochzeitsgesellschaft herausgehört hatte, jedenfalls glaubte er, die Pause bis zum Dessert – der Wirt hatte, nachdem die Reste der »Schönen Helena« abgetragen worden waren, Eisvariationen unter dem Motto »Pariser Leben« versprochen – für eine Tischrede nutzen zu sollen; schon ließ er mit Hilfe des
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