Ein weites Feld
der reformierten Kirche geführten Waisenhaus und andeutungsweise von Nervenkrisen der Mittvierzigerin offenbar eine Erbanlage – berichten können, kaum mehr. Die ferne Tochter war nicht ins Boot zu holen, und wäre Madame Aubron mit von der Partie gewesen, hätte sie jede Annäherung ihres Vaters schroff abgewiesen, ihn womöglich beschimpft: Boche! Und Schlimmeres. Deshalb schwieg Fonty, und Emmi, die gleichfalls schwieg, sagte uns später, weshalb sie so lange stumm geblieben sei: »Wollte meinen Wuttke bißchen zappeln lassen. Der sollte anfangen. Redet doch sonst gern.« Dann räumte sie ein: »Hab dann doch angefangen, aus reiner Gutmütigkeit. Irgendwer mußte ja ein Wörtchen riskieren.«
Plötzlich, als Madeleine die familiäre Fracht wieder in Ufernähe vorbeiführte, fragte Emmi die Ruderin nach der nicht abgeschlossenen Magisterarbeit, als interessiere sie deren Thema brennend: »Um was geht’s denn da? Warste schon in Potsdam, Marlen? Sind ganz nett die Leute da im Archiv. Die wissen ne Menge!« Und die Studentin im achten Semester sagte, daß es bei ihrer Examensarbeit um Motivverknüpfungen, Lokalitäten und die Erzählhaltung insbesondere in »Irrungen, Wirrungen« gehe, daß sie zusätzlich »Stine«, den frühen Berlinroman »L’Adultera« und die späten »Poggenpuhls« in ihre Untersuchungen einbeziehe und überdies vorhabe, den hugenottischen Hintergrund des Autors zu erfragen. Mit dem Potsdamer Archiv korrespondiere sie bereits seit einiger Zeit. »Schon vor dem Fall der Mauer konnte ich, dank Empfehlung meines Professors, Kontakt knüpfen«, und selbstverständlich habe sie ihren Berlinaufenthalt für einen Besuch in der Dortustraße genutzt: »Man ist dort wirklich sehr zuvorkommend und überhaupt nicht pedantisch. Sie können gewiß sein, Madame Wuttke, daß ich, bei aller persönlichen Motivierung meines derzeitigen Aufenthalts, die Studien nicht vernachlässigen werde.« Jetzt erst mischte Fonty sich ein. Er kam mit Hinweisen auf den einst an Felder grenzenden Stadtteil Wilmersdorf, den damals eher armseligen Zoologischen Garten und mit verkehrstechnischen Bemerkungen zu Botho von Rienäckers Kutschenfahrt durch die Hasen- und Jungfernheide zum Friedhof und Grab der alten Frau Nimptsch. Dabei geriet er ins Plaudern, ironisierte launig das Immortellenmotiv, rief: »In ›L’Adultera‹ geht für Melanie und Rubehn immerhin alles gut aus!« Sagte: »Das war das jüdische, da gab’s nur viel oder wenig Geld, aber keine Standesbarrieren« und begann dann übergangslos die Poggenpuhlsche Wohnung zu möblieren: »Einige Erbstücke, zu denen der auf einer Auktion erstandene, weißlackierte Pfeilerspiegel, Trumeau genannt, mit eingelegter Goldleiste passen mußte …« Da wurde er von Emmi unterbrochen: »Na, bei uns in der Kollwitzstraße sieht’s nich besser aus als bei denen in der Großgörschen. Das meiste is noch von Tante Pinchen geblieben. Und unser Spiegel hat Flecken sogar.« Nachdem Emmi weitere Mängel und den Zustand des Mietshauses im Bezirk Prenzlauer Berg beklagt und alles »schlimm und schlimmer als schlimm« genannt hatte, wechselte sie abrupt das Thema, indem sie von Madeleine wissen wollte, was sie, die so konzentriert rudernde Französin, von der ab Mitternacht bevorstehenden deutschen Einheit halte: »Vielleicht gehn wir da heut noch hin, wenn das losgeht mit dem Glockengebimmel.«
Madeleine überhörte den Themenwechsel. Beim Rudern – und gar nicht außer Atem
- versicherte sie, daß sie vor einer Woche schon die gegenwärtige Hasenheide und deren Biergärten mit der Romanbeschreibung verglichen, den Zoo besucht, anhand kolorierter Stiche von dazumal Vergleiche mit dem großstädtisch zugewachsenen Bezirk Wilmersdorf angestellt und natürlich in Kreuzberg die Großgörschenstraße gefunden habe. Was die Poggenpuhlsche Wohnung betreffe, werde sie auf den Hängeboden als Behausung für das alte Dienstmädchen Friederike, somit auf die ausgesparte soziale Frage bei anderer Gelegenheit zurückkommen. »Ich weiß, daß Monsieur X das alles gesehen, aber -wie auch sonst alles Häßliche – ungern beim Namen genannt hat.« Und dann erst ging sie mit Blickwechsel auf Emmis Frage ein: »Zur deutschen Einheit kann ich nur sagen: Sie ist aus französischer Sicht als normales Ereignis, wenn nicht gerade wünschenswert, so doch akzeptabel. Im Gegensatz zu Großpapa, der voller Bedenken ist, bin ich froh über die Vereinigung. Ich hoffe, daß auch Sie, Madame Wuttke, sich
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