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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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bestimmen ist, will ich gerne Ihre zartbittre Person sein.« Sie lieferte noch weitere Zitate ab und wetteiferte dabei mit ihrem Großvater. Ein eingefuchstes Spiel, bei dem wir vom Archiv nicht zurückstehen wollten. Rief Fonty: »Palme paßt immer!«, hatte Madeleine »Alle Klosteruhren gehen nach« parat. Uns fielen ›Je mehr man mitnimmt, je mehr fehlt einem« und der Spruch des englischen Kutschers der Barbys ein: »Widow ist mehr als virgin.« Eine Kollegin wußte: »Moral ist gut, Erbschaft ist besser!« Ich steuerte die bekannte Altersweisheit bei: »Schweigt das Leben, schweigt der Wunsch …« Und der Archivleiter hatte mit »Kalbsbrust ist immer Knorpel« die meisten Lacher auf seiner Seite. Schließlich war es Fonty, der mit herausgepflücktem Zitat, dessen Zusammenhang selbst wir nicht sogleich erkannten, das bis dahin eher lustige
    Spiel auf die Gegenwart brachte:
»Aber die Deutschen – wenn sich irgendwas auftut –
zerfallen immer gleich wieder in zwei Teile.«
Und schon waren wir beim Thema. Es ging um das
größer werdende Vaterland, also um jenes hübsche
Geschenk, das uns gemacht worden war, sich aber bald als
unpraktisch und sperrig erweisen sollte: Wohin damit?
    Was fangen wir mit uns an? Wie lebt man mit soviel Größe? Nicht, daß allgemein Streit ausbrach, doch wurde der Gegensatz zwischen Großvater und Enkeltochter deutlich. Aus französischer Sicht waren Einheit und Nation feststehende Tatsachen. »Und damit basta!« rief Madeleine. Fonty war als erklärter Feind des »ledernen Borussentums« dennoch Preuße genug, um jegliche Einheit kleinteilig aufzulösen und dem Begriff Nation, den er als bloße Chimäre abtat, eine ordentliche und möglichst von der Vernunft bestimmte Verfassung vorzuziehen: »Zweifelsohne fehlt uns eine Konstitution, die nicht nur dem Westen paßt.« Sie warf den Deutschen selbstquälerische Verrücktheit, er den Franzosen selbstgerechten Chauvinismus vor. Rief sie: »Vive la France!«, gab er »Hoch lebe Brandenburg!« zurück. Heiß ging es her, mehr bitter als zart. Und wir, denen der Anschluß bevorstand, wir schwiegen dazu. Was hätte uns Neues einfallen können? Gewiß wären des Unsterblichen Widersprüche mit Zitaten zu belegen gewesen – »Deutschland ist nicht bloß mehr ein Begriff, sondern eine starke Tatsache« –, aber bald war kein Mitreden mehr. Madeleine Aubron griff im Eifer des nationalen Streits auf ihre Muttersprache zurück; und Fonty überraschte uns mit welschem Zungenschlag. Das hörte sich nicht wie »kümmerliches Etappenfranzösisch« an. Wir staunten, als so flüssig über uns weggeredet wurde. Allenfalls konnten wir in einer Sprache gegenhalten, die im Arbeiter- und Bauern-Staat für alle Schüler obligat gewesen war: mit unserem verordneten Russisch, dessen Schönheit wir nicht verleugnen wollen. Nach schnell überwundener Hemmung wagten wir den Versuch. Einer verstand es, auswendig Puschkin nach Originaltext zu zitieren. Nun steuerte jeder, der eine Turgenjew, der andere Tschechow, ich Majakowski aus dem Stegreif bei. Eine unserer Damen war des Polnischen mächtig und bot ein Gedicht von Tadeusz Rózewicz, die andere Kollegin hatte aus abgebrochenem Studium sogar ein wenig Chinesisch – sie sagte »Mandarin« – aufbewahrt und deklamierte ein kurzes Poem des großen Vorsitzenden Mao. Der Archivleiter behalf sich mit Latein: Ovid oder Horaz. Schließlich gelang es, den Streit um Einheit und Nation vielsprachig zu begraben. Bald lachten alle, am Ende auch Großvater und Enkeltochter, nun wieder auf deutsch.
    Sie blieben und blieben. Selbstverständlich gab es Kaffee und Kekse dazu. Genügend Zeit hatten wir, um uns Fontys Sprachkenntnisse nicht nur aus seiner Soldatenzeit im besetzten Frankreich zu erklären; da er im Lebenslauf des Unsterblichen so ganz und gar aufgegangen war, teilte er dessen Mühe beim Aufsetzen von Petitionen, die während der Gefangenschaft auf der Insel Oléron, wie alle an seine Frau gerichteten Briefe, auf französisch geschrieben werden mußten, so lautete die Anordnung der Zensur. Hinzu kam, daß Fonty als Theo Wuttke seinen kriegsbedingten Aufenthalt in Frankreich privat zu nutzen verstanden hatte; die Liebe zu Madeleine Blondin wird ihm behilflich gewesen sein. Als es gegen Ende des Besuchs nur noch um die Aufhebung der Internierung ging, brach darüber abermals Streit aus. Großvater und Enkeltochter disputierten wie Advokaten. Uns – dem Publikum – wurde ein Fall aktualisiert, zu dem wir

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