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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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hinlänglich mit Fußnoten beigesteuert hatten. Während Fonty sicher war, der Kardinal-Erzbischof von Besancon habe, dank Vermittlung der katholischen Familie von Wangenheim, hilfreich agiert, behauptete die Studentin Aubron, daß Bismarcks Brief an den US-Gesandten in Frankreich, Mister Washburne, von entscheidender Bedeutung gewesen sei: Der Gesandte habe sogleich zu dem französischen Außenminister Jules Favre Kontakt aufgenommen. Die Drohung des Kanzlerbriefes habe Wirkung gezeigt. Bei Nichtfreilassung des »harmlosen Gelehrten«, der als »preußischer Untertan und wohlbekannter Geschichtsschreiber« vorgestellt wurde, sei mit der Verhaftung »einer gewissen Anzahl von Personen in ähnlicher Lebensstellung in verschiedenen Städten Frankreichs« zu rechnen gewesen. Madeleine rief: »Unser Monsieur X wurde von Bismarck befreit!« Fonty wollte das nicht hinnehmen. Seine Enkeltochter wagte den Ausruf: »Absurde!« und spielte mit des Unsterblichen Lieblingswort »ridikül!«. Wir griffen in den Disput ein und gaben zu bedenken, daß der Schriftsteller Moritz Lazarus, der, wie der Unsterbliche, den Dichtervereinigungen Tunnel und Rütli angehörte, mit dem französischen Kriegsminister Crémieux Verbindung aufgenommen und so den günstigen Verlauf der Gefangenschaft befördert habe; Crémieux sei Vorsitzender der »Alliance Israéite Universelle« gewesen, während Lazarus Präsident der Israelitischen Synode war. Ich verstieg mich zu der Behauptung: »In Preußen und Frankreich haben einzig die Juden mit Tatkraft zugunsten des Unsterblichen interveniert.« Hingegen vertrat der Archivleiter die Meinung: »Erst nachdem die Verpflichtung, nichts ›contre La France‹ zu sagen oder drucken zu lassen, mit Unterschrift vorlag, hat die Entlassung am 24. November 1870 stattfinden dürfen.«
    Diese mehr ergänzende als widersprechende Auskunft konnte den Streit zwischen Enkeltochter und Großvater nicht beenden. Scharf ging es hin und her, bis Fonty einlenkte und »Hauptsache, man war wieder frei!« rief. Dann wandte er sich an uns: »Bitte mir unbedingt zustimmen zu wollen: So ist sie nun mal, unsere Madeleine, zart von Gestalt, doch von bitterer Strenge.« Wir neigten dazu, in dieser Sache der Studentin recht zu geben. Doch als sie kurz nach Vollzug der Einheit das Archiv allein besuchte, vertraten wir, nach Überprüfung aller uns vorliegenden Dokumente, die Meinung, daß es Fonty unmöglich gewesen wäre, ausgerechnet Bismarck, den er bei jeder Gelegenheit einen »schrecklichen Heulhuber« nannte, als Befreier zu bestätigen. Mit Madeleine einigten wir uns dahin: »Monsieur X hat sich in eigener Sache betont lässig geäußert: ›Ist doch gleich, wer mich befreit hat. Entweder war es die Katholische Partei oder die Judenpartei oder die Regierungspartei …« Im übrigen ist die kleine Schrift »Kriegsgefangen« ein Beleg dafür, daß der Unsterbliche Wort gehalten und die Erinnerungen an seinen Zwangsaufenthalt ohne nationale Ausfälle gegen »La France« niedergeschrieben hat. Das gefiel in Preußen ganz und gar nicht. Nachdem die Einheit Deutschlands ausgerufen worden war, konnte kaum mehr auf Toleranz gehofft werden. Selbst sein Sohn George, der im Krieg gegen Frankreich mit seinem Regiment bei St. Denis stand, war in einem Feldpostbrief nicht bereit, das inzwischen erschienene Büchlein zu tolerieren: »Ich muß Dir, lieber Vater, und auch im Namen aller unserer Herren einen kleinen Vorwurf machen, weil Du die Franzosen in Deinen Schicksalen so sehr herausstreichst …« Die Studentin Aubron bedauerte diesen familiären Zwist, doch als wir sie nicht direkt, eher zurückhaltend nach der Bootspartie mit ihrem Großvater und dessen Frau befragten, sagte sie: »Unsere tour en famille verlief recht harmonisch. Mit Madame habe ich mich blendend verstanden. Wirklich, eine großherzige Frau. Wir waren uns, Großpapa betreffend, auf vergnügliche Weise einig. Als ich zu verstehen gab, daß Monsieur Wuttke zu der ehrenhaften Dekoration eher grundsätzlich – oder wie man hier sagt, im Prinzip -gekommen sei, denn nicht als Held, wohl aber als nützlich habe er sich bewiesen, hat sie sehr herzlich gelacht und gesagt: ›Das hab ich mir gleich gedacht. Aber sieht hübsch aus, das Bändchen.‹«
    War Emmi Wuttke soviel Verständnis zuzutrauen? Lag alles, was für sie schmerzlich war, unter zentnerschwerer Gutmütigkeit begraben? War sie wirklich so ahnungslos, oder übte sie aus lebenslanger Gewohnheit Nachsicht mit ihrem

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