Ein weites Feld
bereits seit meinem Lyon-Besuch bekannt ist. Schließlich wurde auf ihren Antrag hin Amtshilfe geleistet. War uns völlig unverständlich, daß auf französischer Seite so lange gezögert wurde. Im Grunde ging’s um ne Formsache nur, ob der damalige Obergefreite Theo Wuttke wissentlich oder ahnungslos die Résistance unterstützt hat. Die Veteranenvereine sind in dieser Frage ziemlich pingelig gewesen. Hauptsache ist, haben wir gesagt, daß seine vom Tonband gesendeten Lesungen subversiv genug waren und auf einige im Raum Lyon in Bereitschaft stehende deutsche Einheiten destabilisierend gewirkt haben, besonders nach Beginn der Invasion. Was heißt hier Beweisnot! Als Archivare müßten Sie wissen, welche Macht von Wörtern ausgeht. Konnte man eindeutig bejahen: Wehrkraftzersetzung hieß das. Warum? Mich erstaunt Ihre Frage. Wissen Sie wirklich nicht, wie gefährlich Wörter sein können, nein, sind? Überhaupt Literatur … Gewisse Bücher … Manchmal ein halber Satz nur … Hinzu kam die Wirkung suggestiv gesprochener Wörter und die sich einschmeichelnde und so, erwiesenermaßen, die Wehrkraft zersetzende Stimme des Vortragenden. Schlug jedesmal ein wie ne Bombe, wenn er auf Sendung ging. Die Zahl der Fahnenflüchtigen im Bereich Lyon war Beweis genug. Dennoch hatten die französischen Genossen Einwände über Einwände. Mademoiselle Aubron war verärgert und hat sich, was nicht gerade hilfreich war, ziemlich trotzkistisch geäußert. So ist es leider zu spät zur Ehrung gekommen. Wir hätten das gerne als nen öffentlichen Akt gesehen, nämlich bei der Vierzigjahrfeier unserer Republik. Ehrentribüne! Großer Bahnhof! Die führenden Genossen! Denn die private Übergabe ist eigentlich ne Formlosigkeit gewesen, und die Urkunde, na ja … Im Ruderboot … Einfach unmöglich … Hat sich aber auch so über den Orden gefreut … Mag er ja nicht, zuviel Öffentlichkeit … Massenaufläufe … War wohl deshalb so brummig, als die Geschichte endlich losging und das Einigvaterland vorm Reichstag abgefeiert wurde. Wollte nach Haus. Wollte das Glockenläuten nicht abwarten. Aber wir haben ihm zugeredet, besonders eifrig Fräulein Aubron. Auf die hört er ja.«
Sie kamen nicht weit, nur knapp bis vors Tor, weil überall die Massen gestaut standen. Der eigentliche Ort des Geschehens, der Reichstag und die Tribüne vor seiner Fassade, auf der die Festredner schon begannen, die historische Mitternachtsstunde mit dick oder subtil auftragenden Sätzen zu vergolden, konnte nur erahnt werden. Dennoch blieben sie bis zum Glockengeläut, denn was vor der breitgelagerten Kulisse ablief, die Auftritte der Redner, der Jubel der Menge, der einzelne Sätze belohnte, die Zwischenmusik, all das kam durch Lautsprecher rüber, zwar verweht und in Fetzen, aber bei einfachem Inhalt verständlich, sogar mitreißend; jedenfalls übertrug sich weihevoll Stimmung, und eine gewisse Feierlichkeit gab so etwas wie ein Wir-Gefühl her. Und doch ist richtig, was Hoftaller uns gesagt hat: Fonty wollte von Anfang an nicht dorthin, wo sie nun eingekeilt, wenn auch am Rande nur, standen. Und als sie in der Menge aufgingen, wollte er weg, nur noch weg oder, wie er sagte: »Schnell raus aus dem kolossalen Rummel!« Aber Emmi bestand darauf zu bleiben, weil die Enkeltochter wünschte, auf jeden Fall und bis zum Glockenschlag dabeisein zu dürfen: »Ich bitte Sie, Großpapa, ein wenig Rücksicht auf grand-mère zu nehmen, sogar ein wenig auf mich. Uns jedenfalls kann die Einheit der deutschen Nation nicht gleichgültig sein. Nicht wahr? Wir wollen uns freuen und unserer Freude Ausdruck geben. Sie mögen, aus welchen Gründen auch immer, Deutschland als zur Einheit unfähig ansehen, bei uns in Frankreich jedoch steht die Nation, steht La France über allem. La Grande Nation sagen wir. Die einen mit Pathos, als müßten sie dem Général de Gaulle nachsprechen, die anderen ein wenig spöttisch, doch ernst meinen es alle. Das gilt selbstverständlich auch für mich, eine kleine, gelegentlich spottlustige Trotzkistin, die einerseits ihren internationalistischen Träumen nachhängt und sich noch immer ein bißchen Kommunismus erhofft, doch andererseits ihren grand-père sehr herzlich darum bittet, Großmama und mir nicht die Freude der heutigen Nacht zu verderben.« Also blieben sie. Fonty stützte sich auf den Stock und litt nur noch gedämpft. Hoftaller, der zur Familie gehören wollte, war bemüht, im Hintergrund zu bleiben. Ohnehin ließ die platzweite
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