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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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…«
    Für uns kein Brief. Auf einer Postkarte nur bekam das Archiv den Tip: »Will übermorgen bei der sitzenden Bronze vorsprechen …« Das reichte als Hinweis. Bei Vermeidung der westlichen Stadthälfte fuhren sie über den Berliner Ring auf die Autobahn Richtung Rostock, verließen diese vor dem Abzweig nach Hamburg und waren nach gut einer Stunde Fahrt, weil kein Stau den Trabi hemmte, am Ziel ihrer Sonnabendtour. Sie fuhren an einem der ersten Märztage. Seit einer Woche zog die Treuhandanstalt mit Akten und Personal vom Alexanderplatz in den renovierten Koloß Ecke Leipziger Straße um. Kaum hatte er sich hinters Steuer geklemmt, ließ Hoftaller durchblicken, daß der Besuch in Neuruppin als Belohnung zu verstehen sei. Weil »dank Ihrer lieben Frau Emmi« endlich die Denkschrift »Vom Fortschritt der Geschichte« in Maschinenfassung vorliege, dürfe sich Fonty seiner Reiselust hingeben: »Können jetzt in Ruhe abwarten, welche Striche und Änderungen die Chefetage vorschlagen wird.« Bei wechselhaftem Wetter fuhren sie, sogar Hagelschauer prasselten auf den Trabi. Gut aufgeräumt blieb der Schreibtisch im Dienstzimmer 1819 hinter ihnen. Immer wieder mußten die Scheibenwischer für ungetrübte Sicht sorgen. Nur die Kopie der Denkschrift lag, knapp vierzig Seiten stark, vor dem Hohlbaustein, in dessen Löchern Fontys Schreibutensilien steckten. Er war in erwartungsvoller Stimmung: Zum Rhythmus der Scheibenwischer summte er einen parademäßigen Marsch. Die Paternosterpassage hatte er einerseits gestrafft, andererseits mit zusätzlichem Personentransport bereichert: lauter Prominenz im Aufund Abstieg. Sogar einige von Emmis Strichvorschlägen hatte er beherzigt und zum Beispiel jene Anekdote getilgt, nach der ein hochdekoriertes Fliegeras die Korridore der Reichsluftfahrt als Rollschuhbahn erprobt haben soll. Als weiß auf blau ein Autobahnschild die Ausfahrt nach Kremmen anzeigte, begann er sich lang und breit über die Familiengeschichte der von Briest auszulassen, besonders was Luise anging: »Eigentlich ist sie die Schuldige. Wenn sie nicht Innstetten, ihre Liebelei aus Mädchentagen, mit ihrer Tochter, dem so liebreizenden wie dummen Ding, verkuppelt hätte …« Der Regen ließ nach. In den frühen Morgenstunden benutzten auch Putzfrauen mit Eimern den Paternoster. »Heute sehe ich das anders: Luise von Briest, diese furchtbar fürsorgliche Mutter …« Und wie Italiens Graf Ciano einst das Reichsluftfahrtministerium besucht hatte, war seinerzeit ein sowjetischer Armenier namens Mikojan im Haus der Ministerien ein mit gemischten Gefühlen empfangener Gast gewesen. Und wieder die Scheibenwischer. Dann zitierte Fonty aus den Wanderungen: das Ländchen Friesack. Während sie von westlichen Flitzern überholt wurden, waren ihm beschauliche Garnisonstädte einige Abschweifungen wert: Er wußte, daß die Zieten-Husaren des 3. Husarenregiments in Rathenow und einige Eskadronen des 2. Ulanenregiments in Perleberg kaserniert waren. Langmütig erduldeten sie, Mal um Mal überholt zu werden. »Nie«, rief Fonty, »hat der Genosse Mielke den Paternoster benutzt!« Und dann verriet der Beifahrer dem Chauffeur, daß Effi von ihrer Mutter, in Anspielung auf das gleichnamige Schauspiel Wildenbruchs, »Tochter der Luft« genannt worden sei. Effi auf der Schaukel. Die wild schaukelnde Effi, wie sie von Liebermann lithographiert worden ist. »Dabei war an diesem Wildenbruch alles Willkür. Und das nennt die blöde Menge dann Genialität …« Doch Hoftaller ließ sich weder auf Garnisonstädte noch auf das Leitmotiv der ersten Romanseiten ein. Nur um den Chef der Treuhand war er besorgt: Der mache, so forsch er auftrete, einen zunehmend bekümmerten Eindruck und stehe, nachwachsender Skandalfälle wegen, mächtig unter Druck. Der müsse, während in Bonn der Kanzler fein raus sei, vor Ort den Prügelknaben abgeben. Der rieche jetzt schon, selbst gegen Wind, nach Pleite. »Ist ne Fehlbesetzung!« rief er.
    Plötzlich schüttelte inwendiges Lachen den Tagundnachtschatten. Er klammerte das Lenkrad, um ein immer stärker aufkommendes Beben zu bändigen. Hoftaller mußte sich aussprechen, schubweise: »Schaffen das nie. Wächst ihnen übern Kopf. Hab ja gesagt, daß die damit nicht fertig werden. Von wegen abwickeln, verheddert haben die sich. Und wer wird verdroschen? Natürlich der Chef. Hat keinen Durchblick mehr, der große Sanierer. Überall werden unter der Hand Tochtergesellschaften gegründet und – klar doch! -auf

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