Ein weites Feld
Vorwürfe machen, weil ich nicht fürsorglich genug … Glaubte, ein kleiner Denkzettel muß sein … So war die Zeit damals … Doch im Rückblick verlieren meine dienstlichen Tätigkeiten zunehmend ihren Sinn, falls sie jemals sinnvoll gewesen sind … Eigentlich hatte ich schon Mitte der fünfziger Jahre Schluß machen wollen … All diese unerledigten Fälle … Bewohnte damals ein Haus ganz für mich und saß oft im Keller … Rechnete mit mir ab … War am Ende … Schrie: Warum hilft mir keiner! An einem Sonntag war das … Die Heizung kalt … Aber ich habe dann doch weitergemacht, weil es mir um die Sache, nur um die Sache ging … Doch heute …« Gewiß, man hatte ihn oft klagen hören, aber so zerknirscht, so entblößt kannten wir ihn nicht. Er verwarf sämtliche Ordnungs- und Sicherheitssysteme. Hoftaller zweifelte und widerrief sogleich seine Zweifel. Ein wenig erschrocken hörten wir ihn über den erschöpft schlafenden Fonty hinweg stammeln: »Schon zu Herweghs Zeiten … Nicht ausweisen, hinter Gitter bringen wollte ich ihn … Sehen Sie, wurde geboren, als dieser Student den Herrn Staatsrat August von Kotzebue … Und zwar nachmittags fünf Uhr, wie mir meine Mutter gesagt hat … So etwas prägt … Nie hätten wir dulden dürfen, daß ein gewisser Lenin im verplombten Sonderzug durch das Reich … Aber mit dem Prinz-Albrecht-Palais und den Gestapomethoden dort habe ich niemals … War im Amt Fünf beim Reichskriminalamt, und mein Chef hieß Nebe … Weshalb ich auch nichts mit sowjetischen Kriegsgefangenen, nur mit Dschugaschwili, wie Stalins Sohn richtig hieß … Und als ich dann in der Prenzlauer Allee und schließlich in der Normannenstraße … Nur weil der Genosse Zaisser die Lage nicht richtig erkannt hat und das Wort Putsch vermeiden wollte … Dabei haben wir fest geglaubt, Schild und Schwert unserer Arbeiter- und Bauern-Macht zu sein … Wie ja ihrerseits die Kollegen in Köln und Pullach überzeugt sind … Es ging um die Sache, wie ich schon sagte … Und wenn sich mir ne neue Aufgabe stellen sollte, meine, was Sinnvolles, etwas, das ausfüllt, wie derzeit die Krankenpflege, denn bei der Treuhand hält mich nichts mehr …« Wir hörten zu und begriffen, daß sich Hoftaller in einer Sinnkrise befand, deren Gefälle aus unserem Archivwissen erahnt werden konnte; ihm wird, wie gelegentlich uns, die Motivation gefehlt haben. Weitermachen wollte er schon, doch wußte er nicht, für oder gegen wen er tätig werden sollte. In diesem Zustand verließen wir Fontys weißgeschürzten Tagundnachtschatten und dessen Pflegefälle. Seine Einladung »In der Kollwitzstraße sind Sie jederzeit gern gesehen« klang flehentlich. Beim nächsten Besuch jedoch trat ein Ereignis ein, das zumindest die beiden Frauen gesunden ließ – und zwar schlagartig.
An einem Freitag. Das Wetter schwül und gewittrig. Draußen hatte man Blei in den Sohlen. Die Nachricht kam, als wir am Krankenbett saßen. Er sah lieb aus: mitgenommen und durchsichtig, ganz der Unsterbliche. Als an der Wohnungstür die Klingel ging, drehte er den Kopf und sah Hoftaller nach, wie er die eng gewordene Studierstube verließ und von der Küche aus nach abermaligem, jetzt ungeduldigem Klingeln die Tür zur Wohnung öffnete. Auf die Rückkehr des Pflegers, der mit einem gelblichen Kuvert im Hintergrund blieb, reagierte er mit des alten Stechlin Punktumsatz: »Ich kann Telegramms nicht leiden.« Als Hoftaller, unsicher, ob er die eilige Post öffnen solle, von einer telegraphischen Nachricht für Martha Grundmann sprach, hörten wir vom Bett aus sein hohes, leicht meckriges Lachen: »Wird die Meldung vom Kauf der Villa Zwick am Müritzsee sein, die sich ihr Göttergatte gegrabscht hat. Beste Uferlage natürlich …« Doch als das Kuvert erbrochen und dessen Inhalt halblaut vorgelesen wurde, lag Fonty wieder mit geschlossenen Augen und unruhigen Händen. Nur einmal, als schon beschlossen war, Martha zu benachrichtigen, tauchte er auf, diesmal mit visionärem Blick: "Will einen Roman im Telegrammstil schreiben … Wie eine Meldung die andere hetzt … Depeschenkürzel, Wortknapserei … Handlung nur als Gestotter noch …« Aber mehr oder gar Inhaltliches wollte er nicht verraten. Auf unsere Fragen nach dem neuen Projekt kam keine Antwort. Ganz vom Fieber bestimmt, war er weg. Und gleichfalls reagierte Fonty nicht, als aus der Küche Lärm in seine Studierstube drang: Türenschlagen, Rufe, ein Stuhl fiel um. Etwas war zu Ende, Neues begann.
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