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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Inmitten der aufgestörten Familie waren wir fehl am Platze. Bevor uns Hoftaller dazu aufforderte, verließen wir das Krankenzimmer nach letztem Blick auf Fonty, der, wenngleich stumm, schon wieder auf Reise war. Marthas Ehemann war verunglückt. Einer der alltäglichen Autounfälle im Beitrittsgebiet. Es war zum Frontalzusammenstoß mit tödlichen Folgen, auch für den Fahrer des anderen Wagens, eines Trabant, gekommen. Auf der Chaussee von Schwerin nach Gadebusch, die weiter, über die ehemalige Grenze, nach Ratzeburg führt, ist es passiert. Heinz-Martin Grundmann starb auf dem Transport zum Krankenhaus. Er soll nicht angeschnallt gewesen sein; doch das stand nicht im Telegramm. Bevor wir die Wohnung in der Kollwitzstraße verließen und während meine Kollegin unsere mitgebrachten Schnittblumen, die immer noch unausgewickelt auf dem Küchentisch neben dem fremdsprachigen Lehrbuch lagen, in einen Milchtopf stellte, fiel uns auf, daß nicht nur Martha, sondern auch Emmi sofort aus den Betten gefunden und sich angekleidet hatten. In Rock und Bluse setzte Martha bereits Kaffeewasser auf. Kein Entsetzen, keine Tränen, selbst Emmi Wuttke, die leicht ins Weinen geriet, verabschiedete uns trockenen Auges und in einem Zustand, den man, wenn nicht munter, dann doch geschäftig nennen konnte.
    »Knapper ging’s nich!« rief sie. »Sein Kompagnon hat das Telegramm aufgegeben, steht jedenfalls drunter: Udo Löffelholz. Dem muß man jetzt auf die Finger gucken. Und zwar ab sofort!« Das gab sie uns mit, als wir in der Wohnungstür standen. Vor Eifer hatte sie richtig Farbe bekommen. Und als wir die ersten Stufen treppab nahmen, rief sie uns nach: »Hab sone Ahnung gehabt, daß da was kommt. Was Schlimmes! Das konnt ja nich gutgehn, immer Tempo. Aber mein Wuttke hat nur gesagt: ›Das ist deine Katastrophensucht. Die kommt von zuviel Fernsehn.‹ Und wer hat nu recht gehabt?« Indem wir der Versuchung widerstehen, des längeren auf die Rolle der Telegraphie in »Effi Briest« und den unheilvollen Gegensatz zwischen dem Absender geheimnisloser Telegramme – von Innstetten – und dem Meister verführerisch intimer Briefe – von Crampas -einzugehen und darauf verzichten, weitere Telegramme, etwa aus dem »Stechlin«, zu zitieren, ferner die damaligen Ursachen hoher Politik – Emser Depesche – außer acht lassen, konzentrieren wir uns auf die in der Dreieinhalbzimmerwohnung wie auf einen Schlag veränderte Situation: Hoftaller hatte fortan nicht mehr drei, nur noch einen Kranken in Pflege. Im Grunde wäre er gleich nach Eintreffen des einen Todesfall meldenden und zwei soeben noch Kranke gesund machenden Telegramms überflüssig gewesen, wenn Emmi Wuttke sich bereit erklärt hätte, an seiner Stelle unseren Fonty zu umsorgen; doch Martha Grundmann, die als überraschend schnell reisefertige Witwe auftrat, wünschte sich ihre Mutter als Begleitperson: »Also, das schaff ich nicht, allein nach Schwerin, die Beerdigung mit allem Drum und Dran und dann noch das Testament, was bestimmt Ärger macht. Nicht nur von wegen Familie – da geb ich nix drauf –, aber dieser Löffelholz kann ganz schön biestig werden. Genau! Der grabscht womöglich nach allem, was da ist. Im Prinzip würd ich ja lieber bei Vater bleiben, solang er noch fiebrig ist, aber die Umstände sind nun mal, wie sie sind. Da muß man aufpassen. Das bin ich meinem Grundmann schuldig. Sie können sich denken, was da auf uns zukommt, bestimmt …« Hoftaller sah alles ein. »Aus Rücksicht auf die besondere Situation, aber auch aus freundlicher Verbundenheit mit der Familie Wuttke« war er bereit, die Wohnung und in ihr den verbliebenen Kranken zu hüten. »Das ist doch selbstverständlich. Ihr Herr Vater steht mir näher, als Sie vermuten können. Die vielen, vielen Jahre … Darunter schwierige … Da möchte man ne Menge nachholen, Schaden begrenzen … Wunden, die die Zeit schlug … Versäumtes, das traurig macht … Sie können sich auf mich, als den Freund Ihres Vaters, verlassen, und zwar voll und ganz.«
    Nun soll etwas geschehen sein, das uns nur vom Hörensagen bekannt wurde: Plötzlich sei aus der Studierstube, deren Tür einen Spaltbreit offenstand, ein Schrei gekommen. Fonty habe kerzengrade im Bett gesessen und sich sein Gebiß, die obere, die untere Prothese, aus dem Mund gezerrt und angewidert auf beide Stücke gestarrt, nun offenen leeren Mundes. Als Hoftaller, vom Schrei herbeigerufen, ans Krankenbett eilte, habe Fonty von ihm Gleiches verlangt,

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