Ein weites Feld
Madeleines Ruf »Großpapa?!« den Schrecken zu nehmen.
Während Martha und Emmi als Beileid erwartende Einheit inmitten der Küche standen, bekam der familiäre Todesfall Namen und Anlaß zugesprochen. Mit längerer Erklärung wurde Fontys Nervenfieber als zwar langwierige, aber nicht lebensgefährliche Krankheit dem tödlichen Unglück und der plötzlich notwendig gewordenen Abreise nachgeordnet. Wiederholt beteuerte der Krankenpfleger, der in weißer Küchenschürze stand, daß Herr Wuttke, selbst wenn Frau Wuttke ihre verwitwete Tochter nach Schwerin begleiten müsse, keinesfalls ohne Pflege bleiben werde: »Wie schon während der letzten Wochen stehe ich Ihrem Herrn Großvater rund um die Uhr zur Verfügung. Habe mich dafür freistellen lassen. Ist doch selbstverständlich, Mademoiselle Aubron.« Madeleine war rasch von Entschluß: »Err Offtaller, ich danke Ihnen sehr für Ihre Bemühungen. Aber von nun an werde ich mich um Großpapa bekümmern. Ich bitte Sie, Ihrerseits die Selbstverständlichkeit meines Wunsches zu akzeptieren.«
Und mit gleicher Bestimmtheit sprach sie der verwitweten Martha Grundmann und »Großmama Emmi« ihr Beileid aus, höfliche, korrekt gelernte Wörter aus einem seit langem außer Gebrauch gekommenen Lehrbuch: »Seien Sie, bitte, gewiß, daß ich Ihren tiefempfundenen Schmerz aufrichtig teile …« Nachdem sie Madeleine mit knappem Nicken für ihre Anteilnahme gedankt hatte, fand Martha doch noch Worte: »Na, dann ist ja im Prinzip alles geregelt. Auf die Kleine ist Verlaß. Worauf warten wir noch, Mama?« Als Madeleine mit nicht nachlassender Bestimmtheit nah an Hoftaller herantrat und ihn mit zwingendem Silberblick bat, Emmi Wuttkes Koffer treppab zu tragen und die zwei Trauernden zum nächsten Taxistand zu begleiten, gehorchte dieser wie nach dienstlicher Anweisung, legte sofort – mit seinem Pflegeramt -die Küchenschürze ab, räumte seine Utensilien, darunter das Fremdsprachenlexikon und die Lesebrille, vom Wachstuch des Küchentischs, stand nun zivil in grauem Flanell und griff nicht nur nach Emmis Koffer, sondern auch nach Marthas Reisetasche. Madeleine verabschiedete sich mit Wangenkuß. Nur Emmi Wuttke fand herzliche Worte: »Du bist doch ein gutes Kind. Ach, wie is das alles furchtbar. Mitten aussein Leben gerissen … Wenn bloß mein Wuttke nich wieder so stark zu fiebern anfängt … Ach, Kind, is doch ein Segen, daß wir dich haben …«
Gleich nach dem Abschied fiel die Tür ins Schloß. Wir stellen uns Fontys Enkeltochter in neuer Situation vor. Um nicht ins Schwärmen zu geraten, begnügen wir uns mit dem Geständnis, heilfroh über ihr rechtzeitiges Eintreffen, ihren resoluten Auftritt gewesen zu sein.
Die plötzliche Stille in der Dreieinhalbzimmerwohnung. Hoftallers störendes Klappbett. Die Küche war ihr sicher fremd: die noch halbvollen Kaffeetassen, der rappelnde Kühlschrank, die zu laut tickende Küchenuhr. Hinzu kamen der hinterbliebene Geruch lange eingemotteter Kleidung, die offenen Zimmertüren, der Blick auf die zerwühlten Betten zweier soeben noch kranker Frauen. Wir vermuten, daß sich Madeleine einen Augenblick lang an den Küchentisch gesetzt hat, doch dann war sie mit wenigen Schritten an der Tür zur Studierstube, öffnete sie einen Spalt weit, sah den Großvater in unruhigem Schlaf, erweiterte den Türspalt, kam auf Zehenspitzen dem Bett mit den vier Messingkugeln auf den Eckpfosten näher, ganz nah und setzte sich, leicht, wie sie war, auf die Bettkante. Wir wissen nicht, wie lange ihr Blick auf seinem Gesicht lag, das sie als beängstigend schön, wenn auch vom Fieber abgezehrt erlebt haben mag. Einige stille Minuten. Seine schreibmüden Hände. Der Kopf ließ den Schädel erkennen. Das Haar schweißverklebt. Kaum, daß er atmete. Als Fonty die Augen aufschlug, verging Zeit, bis er Madeleine erkannte. Dann aber war mit wenigen Worten – »Ach, Kind, da bist du ja« – alles gesagt. Bald danach fiel das Fieber.
35 Sterbliche Reste
Wie eine Auferstehung erlebten wir Fontys Genesung, als hätte La petite »Nimm dein Bett und wandle« gesagt, jedenfalls gelang es Madeleine Aubron durch bloße Anwesenheit, ihres Großvaters Fieber zu senken, sein Nervenzucken abzustellen, ihn sachte auf die Beine zu bringen und so gesund zu machen, daß der soeben noch Kranke uns gegenüber von einer besonderen Medizin zu schwärmen begann: »Sie hat was von einer Kräuterhexe. Muß bei der Buschen in die Lehre gegangen sein, auch wenn sie mir nicht mit
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