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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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hätte ihm kilometerlange Leistungen nachweisen können. Er lieferte ab, nahm in Empfang, kam mit Hausmitteilungen, Anordnungen im Umlaufverfahren, mit weiteren Mappen und Ordnern beladen zurück. Immer näher kam er, war mit weitem Schritt Herr der Korridore und wuchs sich zwischen marmorgefaßten Türen zur uns bekannten Größe aus. Bei Andrang vor dem Personenaufzug hatte er Vortritt. Mal stieg er in absinkender, mal in steigender Tendenz in den Paternoster, indem er die sinkende Kabine mit leicht nach unten geneigtem Hüpfer, die steigende mit aufstrebendem Sprung besetzte, um nach unten, nach oben zu verschwinden; nie hat jemand gesehen, daß Fonty beim Ein- oder Ausstieg gestolpert oder gefallen wäre. Soweit die Alleingänge auf Korridoren und die Soloauftritte im Paternoster. Da er aber seine Halbtagstätigkeit – von Woche zu Woche umschlägig vor- oder nachmittags – Hoftaller verdankte und ihm deshalb verpflichtet war, so wie der Luftwaffengefreite Wuttke seinen Druckposten als blutjunger Kriegsberichterstatter einem gewissen Tallhover zu verdanken gehabt hatte und diesem verpflichtet gewesen war, benutzte er oft mit jenem gemeinsam ein und dieselbe Paternosterkabine. Sie standen einander zugewandt. Und nicht selten ergab es sich, daß sie über die Wendepunkte zuunterst zuoberst hinwegfuhren, auf und ab, immer wieder; was nur scheinbar sinnlos anmutete. Wenn beide mehrere Vaterunser lang eine Kabine besetzt hielten, war Hoftaller tätig. Er verlangte Einblick in die beweglichen Akten. Und Fonty kannte Gründe, ihm diesen Einblick nicht zu verweigern. Solange er im Haus der Ministerien Aktenbote gewesen war, hatte Akteneinsicht zur Routine gehört. Nun aber, seitdem das eigentliche Zentrum der Arbeiter- und Bauern-Macht, die Festung der Staatssicherheit in der Normannenstraße, gestürmt und sogleich versiegelt worden war, stellten sich neue Aufgaben: Oft kam Hoftaller mit praller Tasche, um gerettete Vorgänge zu sichern. Während umlaufender Paternosterfahrten sprach er von »ner zwischenzeitlichen Ablage«, sobald Fonty ihm den einen oder anderen Ordner geöffnet hatte. Später mußten die eingelagerten Akten verschwinden; und Hoftaller wußte, wo. Viel hausinterner Verkehr war Folge dieser Umstände. Was gestern noch gerettet schien, mußte tags drauf umgeschichtet werden. Oft verlangten diese vorbeugenden Maßnahmen, daß beide den Paternoster zugleich verließen oder ihn gleichzeitig betraten. Fonty zeigte sich beim Ein- und Ausstieg geschickter. Hoftaller, der dem offenen Personenaufzug mißtraute, aber aus übergeordneten Zwängen glaubte, auf die Zweierkabinen angewiesen zu sein, stolperte manchmal beim Ein- oder Ausstieg. Fonty mußte ihn bei der Hand nehmen. Auf ihn war Verlaß. Er bot Halt. Des Aktenboten sprungsicheres Vertrautsein mit dem unablässigen Paternoster gab Hoftaller ausreichend Sicherheit; immerhin waren der Aufzug und dessen Risiken Fonty seit fünf Jahrzehnten bekannt. Schon in Uniform hatte er die flotte Technik des Sprungs in die Kabine und auf den Korridor entwickeln können, denn jeder Marschbefehl, der ihn ins Reichsluftfahrtministerium zurückrief, brachte Übungsstunden mit sich, die aber dem Gefreiten kein reines Vergnügen waren. Tallhover ging es damals nicht um die Sicherung von Akten, sondern um die Abnahme oder Übergabe von Kurierpost, die der Soldat Wuttke, ohne den Inhalt der Kassiber zu kennen, aus den besetzten Ländern, besonders häufig aus Frankreich brachte oder nach dorthin mitnahm. Und überall, ob in Frankreich, Belgien oder Dänemark, hatten sich Mittelsmänner gefunden, unter ihnen nicht wenige von preußischem Adel. So machte er sich nützlich. So mußte er sich nützlich machen. Denn ob zu Tallhovers oder Hoftallers Zeiten: Theo Wuttke stand als Fonty unter Druck. Er wurde an kurzer Leine gehalten. Nein, schlimmer: Wir vom Archiv wissen, daß er von Anbeginn unter Aufsicht gewesen ist. Bereits die Jugendeseleien des Unsterblichen zeitigten Spätfolgen. Der konspirative Zirkel in Leipzig, die Liebelei in Dresden. die Berliner Tage als Apotheker und Revoluzzer: nichts geschah ohne Nachspiel. Ganz zu schweigen von seinen Tätigkeiten für die »Centralstelle« und als Regierungsagent in London. Ein Fangnetz war geworfen worden, in dessen Maschen der achtundvierziger Barrikadenheld und der Freund der Prenzlberger Szene zugleich zappelten; so wenig Freiheit hatte ihm der Zerfall der Berliner Mauer gebracht. Zwar stand nun alles offen, doch die

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